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Mit Schulterpolstern in die Chefetage: Autor Jens Balzer über das Lebensgefühl der 80er


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Jens Balzer schreib bereits die vielgelobten Bücher „Pop“ und „Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er“. Foto: Katja Schwemmers

Autor Jens Balzer („Zeit“, „Rolling Stone“) hat ein Buch über die beliebte und viel zitierte 80er-Dekade geschrieben. In „High Energy: Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt“ wirft er den etwas anderen, klischeebefreiten Blick auf Schulterpolster, „Die Schwarzwaldklinik“, Popper und Co. und beschreibt die Jahre zwischen Endzeit-Stimmung und Befreiung. MOPOP hat mit Balzer gesprochen.

MOPOP: Herr Balzer, selbst wenn man in den 80ern dabei war, hat man etliche Aha-Momente beim Lesen Ihres Buches, weil Sie vertraute Dinge erklären, deren Symbolik einem damals gar nicht so bewusst war.

Jens Balzer: Vielen Dank, das war das Ziel. Es sollte kein Nostalgie-Buch werden. Ich wollte noch mal abklopfen, was damals gesellschaftlich und popkulturell passierte, was es bedeutete und was davon übrig geblieben ist – auch hinsichtlich dessen, was sich darin für die Gegenwart angedeutet hat. Dabei stieß ich auf Sachen wie die modische Verjüngung des Schulterpolsters und stellte fest, dass es das Symbol der neuen Frauenbewegung war, die in den 80ern im Mainstream ankam.

Jens Balzer: Schulterpolster als Symbol für männliche Durchschlagskraft

Inwiefern?

Geschäftsfrauen, die sich dem Motto „Dress For Success“ entsprechend beraten ließen, bedienten sich des Schulterpolsters, um obenrum möglichst männlich-durchschlagskräftig auszusehen, wenn sie – wie man damals sagte – durch die Glasdecke brechen wollten, also in die oberen Konzernetagen. Das wurde erst von Popkünstlerinnen wie Grace Jones übernommen und dann auch von Margaret Thatcher, und im zweiten Schritt wiederum von Männern wie Modern Talking oder später Milli Vanilli. Die zogen sich dann an wie Frauen, die sich wie Männer anzogen.

Und es war nicht immer zu ihrem besten.

Wenn man sich die Videos von Grace Jones von 1981 anguckt, in denen sie das Schulterpolsterjackett und dazu den Muhammad-Ali-Bürstenschnitt trägt, die ihr beide von ihrem Designer Jean-Paul Goude verpasst wurden und mit denen sie ebenso militärisch streng wie androgyn aussah, und dann daneben die dauergrinsenden Fluffis von Modern Talking in ihren Schulterpolsterjacketts vier Jahre später, dann wirken die wie eine Karikatur.

Mode schien damals viel wichtiger zu sein als Ausdruck dafür, wo man steht. Das Palästinenser-Tuch ist dafür ein gutes Beispiel, oder?

Besagtes Tuch stand für die Bewunderung für Jassir Arafat, der es als fesches It-Piece bei der westlichen, protestierenden Jugend etabliert hatte. In der Subkultur der 80er war damit eine bestimmte politische Haltung verbunden wie die Unterstützung des terroristischen Kampfes gegen Israel mit dem Zweck der Auslöschung dieses Staates. Das war mit Sicherheit nicht allen präsent, ich habe mit vielen Altersgenossen gesprochen, denen das nicht wirklich klar war.

Sogar die selbstgedrehten Zigaretten waren mehr als nur eine Kostenersparnis …

Sie waren Ausdruck für die Do-it-yourself-Kultur. Man wollte alles selber machen, das war auch eine Stilfrage. Sie verlieh auch gleich noch eine Kiffer-Ikonografie. Und wenn man den Tabak abends in der Gruppe kreisen lies, war das auch ein Mittel, um Gruppenzugehörigkeit herzustellen. Selbstgedrehte Zigaretten hatten also auch etwas Gemeinschaftsstiftendes.

Das Tolle an Ihrem Buch ist der neue Blick, den man auf die Dinge bekommt.

Das ging mir auch so. Letzten Sommer, als ich anfing mit dem Schreiben, habe ich eine Woche lang sämtliche „Ich heirate eine Familie“-Folgen in der ARD-Mediathek geguckt. Das sind dann auch „Guilty Pleasures“, die man bedient. Bei der Schwarzwaldklinik habe ich allerdings nach der dritten Staffel aufgegeben. Da konnte ich nicht mehr.

Kitschserien wie „Die Schwarzwaldklinik“ setzten Statement für eine moderne Gesellschaft

Dennoch heißt ein Kapitel Ihres Buches „Professor Brinkmann und die neue Unübersichtlichkeit der Liebes- und Lebensverhältnisse“. Haben die vermeintlichen Kitschserien gesellschaftlich etwas bewegt?

Ich fand das auffällig. Als ich sie mir noch mal anschaute, war ich überrascht, wie modern diese Serien waren. Bei „Ich heirate eine Familie“ gibt es die geschiedene Frau mit den drei Kindern und den unglücklichen Lebemann, der auch noch so eine typische 70er-Jahre-Biografie hat, immer rumgevögelt, immer bindungslos, aber irgendwann fragt er sich: was nun? Es geht um die Gründung einer Patchwork-Familie und darum, dass sich die Frau nicht einreden lässt, ihren Beruf aufgeben zu müssen, nur weil er genug Geld für alle verdient. Sie will souveräne Geschäftsfrau bleiben. Es ist natürlich eine Boulevard-Serie. Aber wie selbstverständlich das, was in den 70ern noch mit emanzipatorischer Energie von der neuen Frauenbewegung vorgetragen wurde, nun in so einer scheinbar biederen Fernsehserie angegangen wurde, ist erstaunlich. In „Die Schwarzwaldklinik“, die in Deutschland die erfolgreichste TV-Serie der 80er war, ist es übrigens genauso: Prof. Brinkmann spannt seinem Sohn Udo die Freundin aus und gründet mit ihr eine Familie, die zur Patchworkfamilie wird.

Was macht die 80er zum pulsierenden Jahrzehnt?

Es veränderte sich vieles, aber in welche Richtung es gehen würde, wusste man nicht genau. Wenn man in West-Deutschland seine Teenagerjahre verbracht hat, denkt man eigentlich, dass alles recht behaglich war. Aber beim Rückblick fiel mir wieder auf, wie viel Angst die Menschen damals hatten und was für eine apokalyptische Stimmung gerade am Anfang des Jahrzehnts herrschte. Es war auch die Zeit mit den größten Demonstrationen in der westdeutschen Geschichte, etwa gegen die Nachrüstung 1981 im Bonner Hofgarten oder gegen den AKW-Bau in Brokdorf – auch aus dem Bewusstsein heraus, dass jetzt wirklich die Zukunft des Planeten auf dem Spiel steht. Mit 14 war ich mir total sicher, dass der Atomkrieg ausbrechen würde und wir jetzt eh nur noch ein paar Wochen zu leben hätten.

Nach Tschernobyl und dem Kalten Krieg machte dann die Aids-Angst die Runde.

Am Anfang war es die sogenannte „Schwulenseuche“. In den USA hat es fast fünf Jahre gedauert, bis man ernsthaft Gelder in die medizinische Forschung für die Behandlung steckte und der damalige Präsident Ronald Reagan zum ersten Mal das Wort Aids in den Mund nahm und dagegen ein Programm aufschlug. Gerade wenn man das noch mal unter Corona-Bedingungen rekapituliert, ist das unglaublich.

Sie schreiben, dass vieles, womit wir heute zu tun haben, in den 80ern seinen Ursprung hatte. Bei der Umweltbewegung ist das offensichtlich. Trügt der Eindruck, dass sie nicht wirklich viel bewirkt hat?

Teils, teils. Man hat gesehen, dass es trotz der großen Demonstrationen nicht gelungen ist, die Bundesregierung von ihrem Atomprogramm abzubringen – es wurden fleißig weiter Kernkraftwerke gebaut. Was aber auch daran lag, dass sich die Grünen, so groß ihr öffentlicher Aufschlag Anfang der 80er auch war, trotzdem nur 5,6 Prozent bei der Bundestagswahl holten. Ein überraschend großer Teil der Erstwähler, über 40 Prozent, hat 1983 CDU/CSU gewählt. Die meisten 18- bis 22-Jährigen wollten lieber Helmut Kohl und nicht die Grünen. Dennoch entwickelte sich ein ökologisches Bewusstsein in dieser Zeit, Chemiekonzerne durften ihre Abfälle nicht mehr wie bisher uneingeschränkt in Flüsse einleiten. Die Wasserqualität nahm wieder enorm zu. Ich bin noch aufgewachsen mit dem Gefühl, dass man in so einen Fluss wie die Elbe auf gar keinen Fall nur den kleinen Zeh hineinsetzen darf, weil der sofort abfault. Aber in den 90ern konnte man erstmals wieder in der Elbe baden.

Jens Balzers Buch ist bei Rowohlt erschienen.

 

Welcher Wandel nahm in den 80ern noch seinen Anfang?

Den stärksten Einfluss hatte wohl das, was man schlagwortartig mit dem Wort „Yuppie“ verbindet. Man hat sofort Michael Douglas als Gordon Gekko in „Wall Street“ oder „Fegerfeuer der Eitelkeiten“ von Tom Wolfe im Kopf, eben den leistungsorientierten, hemdsärmeligen Börsenhändler. Das war die andere Form von High Energy, wo in rasantem Tempo computergestützt unfassbare Mengen von Geld hin- und hergeschoben wurden, die keinerlei Bezüge mehr zu irgendeiner realen Produktion hatten. Es war der Start für eine neue Phase des Kapitalismus, der uns bis heute beschäftigt, und dem, was man als Umbau von der Arbeitsgesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft bezeichnet.

Mit welchen Folgen?

Die klassischen Arbeitsfelder des Proletariers wie die Schwerindustrie gingen nach dem zweiten Ölpreisschock von 1979 den Bach runter, Zechen und Stahlwerkschließungen waren die Folge, Ende der 70er setzte die Rezession ein, was auch noch mal zu der dunklen Stimmung beitrug. Besonders in der zweiten Hälfte der 80er entstanden dann auch viele neue Jobs, aber die waren häufig nicht mehr an Tarifsysteme gebunden. Computer-gestützte Heimarbeit und prekarisierte Arbeitsverhältnisse, wie wir sie heute kennen, zeichneten sich damals schon ab.

1987 machten Jensund andere JungsMusik. Der Käfig warein Instrument, auf dem sie „herumdengelten“.

 

Haben sich am Ende viele der Ängste bewahrheitet?

Der Atomkrieg ist jedenfalls nicht ausgebrochen, auch wenn das kein Verdienst der Friedensbewegung war: Ronald Reagan hat die Sowjetunion einfach totgerüstet. Der Planet ist nicht untergegangen, aber die ökologischen Probleme, die damals angesprochen wurden, sind ja keineswegs gelöst. Die planetarische Wende, die sich die Grünen auf die Fahnen geschrieben hatten, ist nicht passiert. Ebenso wenig wie die geistig-moralische Wende, die Helmut Kohl propagierte, um die Fehlentwicklung durch die 68er wieder rückgängig zu machen. Er wollte von den Patchworkfamilien zurück zum heterosexuellen Kleinfamilienglück als verbindliche Norm – und die Frauen sollen gefälligst zu Hause bleiben. Ist nicht passiert, wie wir wissen. Und die sogenannten Gastarbeiter sind auch nicht wieder nach Hause gegangen wie Kohl und seine Freunde das damals gerne gehabt hätten. Deutschland wurde zum Einwanderungsland. Es wurden also verschiedenste Arten von Wenden ausgerufen und keine trat ein. Und die Wende, die dann wirklich 1989 passierte, hat niemand kommen sehen. Dass die Mauer fällt, dass der kalte Krieg sich plötzlich erledigt, diese Wende kam völlig überraschend.

Dieses historische Ereignis gibt Ihrem Buch und natürlich dem Jahrzehnt das Happy End.

Ob die Wiedervereinigung in der Form, in der sie stattfand, ein Happy End ist, darüber gibt es sehr unterschiedliche Ansichten.

Wenn man die 80er mit den 70ern oder 90ern vergleicht – wie schneiden sie dann ab?

Das Lebensgefühl der 80er kann man am besten mit Prince ausdrücken: „We’re all gonna party like it’s 1999.“ Das bedeutet: Das Ende der Welt steht eh bevor, deswegen frönen wir noch mal dem großen Exzess. Und es ist auch völlig egal, ob man mit Männern ins Bett geht oder Frauen mit Frauen oder Männer wie Frauen aussehen. Im Nachhinein betrachtet stehen die 80er für eine interessante Mischung aus Angst und Verzagtheit, apokalyptischer Stimmung und einer ungeheuren Befreiung, weil das, was in den 70ern noch in politischen Alternativkulturen angelegt war, plötzlich im Mainstream aufpoppte.

Was zum Beispiel?

Es war nun völlig selbstverständlich, dass Popmusik auch queer ist: Man hörte Boy George und Prince mit seiner Androgynität, und auch Frankie Goes To Hollywood wären in den 70ern noch völlig undenkbar gewesen. Das Madonna zum Weltstar wurde und so coole Frauen wie Kate Bush und Annie Lennox so großen Erfolg haben, wäre vorher auch nicht möglich gewesen. Es wurde in der Popkultur viel von dem alten, elenden Patriachart weggewischt.

Warum waren die 80er so bunt und vielfältig?

Es wird immer als das Jahrzehnt der Modesünden betrachtet, aber es ist zuerst einmal das Jahrzehnt der Selbstinszenierung und der Individualisierung. Alle waren dazu aufgerufen, an ihrer eigenen Selbstinszenierung zu arbeiten. Wie der Philosoph Paul-Michel Foucault, der 1984 an Aids starb, es in seinem letzten Interview auf den Punkt brachte: „Identität ist doch was für den Personalausweis.“ Es setzt sich das Gefühl durch, dass man die Identitäten abstreifen kann, um sich dann neu zu erfinden, was dann aber – und das gehört auch zum Lebensgefühl der 80er – auch zu einem neuen Zwang werden kann. Gestern konntest du dich noch befreien, in dem du heute dies und morgen das bist, heute bist du dazu aufgerufen, lebenslang zu lernen und dich nicht auf dem einmal erworbenen Wissen und Status auszuruhen. Mit der Folge, dass du in ständige Statuspanik versetzt wirst. Das war die Kehrseite dieser Entwicklung.

Madonna kann ein Lied davon singen.

Ja, genau. Das ist alles geil, wenn man zwischen 20 und 30 ist, danach wird’s anstrengend, besonders als Frau. Männern sieht man ja eher nach, wenn die Dave-Gahan-mäßig ein bisschen verwittert daherkommen. Aber bei Madonna ist der Blick sehr kritisch. So weit ist es mit dem Aufbrechen des Patriarchats dann doch noch nicht.

Ich habe die klassische Biografie: Ich bin als Außenseiter-Kid in einem Dorf in der Lüneburger Heide aufgewachsen mit dem Gefühl, dass mich keiner versteht. Ich war als Teenager Gothic mit Kajal um die Augen. Und dann stand ich im Juli 1985 zum ersten Mal im Hamburger Stadtpark beim Konzert von The Cure – und da sahen alle so aus wie ich.

Jens Balzer

Welches Lebensgefühl nehmen Sie selbst aus den 80ern mit?

Meine 80er waren zuerst einmal ein popkulturelles Erweckungserlebnis. Ich habe die klassische Biografie: Ich bin als Außenseiter-Kid in einem Dorf in der Lüneburger Heide aufgewachsen mit dem Gefühl, dass mich keiner versteht. Ich war als Teenager Gothic mit Kajal um die Augen. Und dann stand ich im Juli 1985 zum ersten Mal im Hamburger Stadtpark beim Konzert von The Cure, und da sahen alle so aus wie ich. Das war unglaublich. Die vielen einsamen Kids aus den Dörfern fanden in so einem Stil eine Familie. Es war völlig klar, wenn jemand schwarz gekleidet war und die Haare ein bisschen so wie Robert Smith trug, war er einer von uns. Das tat in einer Welt, in der man sich eh am Rand fühlte, einfach gut. Und dieses Lebensgefühl gab auch eine biografische Stärkung. Wenn das damals nicht gewesen wäre, weiß ich jedenfalls nicht, wo mich das Leben hingetragen hätte.

Jens Balzers Buch „High Energy: Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt“ ist bei Rowohlt erschienen (400 Seiten, 28 Euro).

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