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Buch-Projekt „ÜBERWUNDEN“ über selbstverletzendes Verhalten und Tattoos: So werden Narben zu Kunst

Hinter dem starken Buch-Projekt „ÜBERWUNDEN“ stecken Kai-Hendrik Schroeder (v.l.), Sabrina Peters, Daniel Bluebird, Daniel Dreyer und Christian Verch.
Hinter dem starken Buch-Projekt „ÜBERWUNDEN“ stecken Kai-Hendrik Schroeder (v.l.), Sabrina Peters, Daniel Bluebird, Daniel Dreyer und Christian Verch.
Foto: Kai-Hendrik Schroeder

Selbstverletzendes Verhalten und das Übertätowieren der Narben – ein Thema, das man mit sehr viel Feingefühl angehen muss. Dem Tätowierer Daniel Bluebird aus Lüneburg und dem Rest des Teams – Daniel Dreyer, Sabrina Peters, Kai-Hendrik Schroeder und Christian Verch – ist das gelungen. Sie haben das starke Buch „ÜBERWUNDEN – Tattoos auf Narben der Vergangenheit“ im Selbstverlag herausgebracht, in dem sie acht Personen porträtieren und ihre Geschichte ausführlich erzählen lassen. Mit Daniel Bluebird hat MOPOP darüber gesprochen, wie es ist, auf Narben zu tätowieren, welche Schicksale ihn am meisten bewegt haben und wie man mit Vorurteilen über selbstverletzendes Verhalten aufräumen kann.

MOPOP: Kannst du euer Projekt bitte einmal vorstellen?

Daniel Bluebird: Gemeinsam mit vier Freund:innen habe ich das Buch „ÜBERWUNDEN – Tattoos auf Narben der Vergangenheit“ herausgebracht. Darin porträtieren wir Menschen, die ihr selbstverletzendes Verhalten (SVV) überwunden haben und die mit einem Tattoo auf ihren Narben einen Abschluss damit finden.

Das Buch ist im Selbstverlag erschienen – hier kann man es für 30 Euro bestellen.

Wie oft begegnen dir als Tätowierer Kund:innen, die Narben haben, aus dem Grund, dass sie sich selbst verletzt haben? Es wirkt so, als sei das sehr oft.

Ich tätowiere seit 2014, hab seither hunderte Tattoos gemacht. Gut ein Drittel der Anfragen bezog sich auf Tattoos über Narben.

Wie fühlt es sich für dich an, Narben überzutätowieren? Sicher anders, als an „normalen Stellen“, oder?

Ein bisschen. Vor allem, weil man weiß, dass diese Tattoos als Cover-up einen besonderen Zweck erfüllen sollen. Grundsätzlich bin ich bei diesen Sessions aber genauso professionell, entspannt und gewissenhaft wie bei jedem anderen Tattoo auch.

Wie gehst du dann an die Arbeit? Ist es dann ein Bedürfnis nachzufragen, woher die Narben stammen oder ob du es nun wirklich machen sollst? Also, weil das ja auch sicher auch ein ganz besonderer Moment für die Kund:innen ist.

Wie alle anderen Kund:innen, werden natürlich auch solche mit Narben erstmal vom mir aufgeklärt. Ich hatte noch nie den Fall, dass sich jemand kurz vorm Tattoo umentschieden hätte oder dass ich jemandem vom Tattoo hätte abraten müssen. Ob man über die Gründe für die Narben spricht, hängt natürlich von der jeweiligen Person ab. In den meisten Fällen ergibt sich das von allein, weil wir beim Tätowieren eh eine sehr vertrauensvolle, lockere Atmosphäre haben.

Narben übertätowieren – ein besonderer emotionaler Moment. Foto: Kai-Hendrik Schroeder

Warum tätowieren einige Tätowierer:innen keine Narben?

Ich weiß gar nicht, ob’s Kolleg:innen gibt, die das kategorisch ablehnen. Das müsstest du diese fragen. Ansonsten kann ich nur mutmaßen. Mag sein, dass Tattoos auf Narben etwas „anspruchsvoller“ sind, weil sich das Gewebe anders verhält. Vielleicht scheuen manche die „psychologische Verantwortung“. Ich kann Tätowierende aber nur dazu ermutigen, Narbentattoos nicht kategorisch auszuschließen. Dass man grundsätzlich über Narben tätowieren kann, zeigt ja nicht nur unser Buch, das zeigen auch viele andere Tattoo-Artists.

Narben überzutätowieren ist zufriedenstellend, auch wegen der besonderen emotionalen Bedeutung für die Person. Entsprechend ist natürlich auch deren Reaktion oft emotionaler als bei anderen Tattoos. Mehr Erleichterung, mehr Freude.

Daniel Bluebird

Wie fühlt es sich dann für dich an, wenn du an einer Narbenstelle dann fertig bist mit dem Kunstwerk – und wie ist die Reaktion der Betroffenen darauf? Ich stelle mir das als sehr zufriedenstellende Arbeit vor.

Das ist es auf jeden Fall, auch wegen der besonderen emotionalen Bedeutung für die Person. Entsprechend ist natürlich auch deren Reaktion oft emotionaler als bei anderen Tattoos. Mehr Erleichterung, mehr Freude.

Welche Geschichte hat dich hinsichtlich Narben auf der Haut in deiner Laufbahn als Tätowierer am meisten bewegt?

Ganz ehrlich, es sind zu viele, manchmal auch ähnliche, um eine herauszupicken. Bei manchen Geschichten macht es einfach nur traurig und wütend, was diese Menschen durchmachen mussten – wenn Missbrauch, posttraumatische Belastungsstörungen und darüber hinaus Mobbing im Spiel sind. Und dann dürfen sich die Betroffenen auch noch Sprüche wegen ihrer Narben anhören. Zum Kotzen! Andere Geschichten sind sehr berührend, weil auf dem Weg zur Heilung so viel Glück, Liebe und Freundschaft entscheidend waren.

Und weil es so viele Geschichten sind, dachtest du dir dann irgendwann: Darüber muss man ein Buch schreiben?

Ein Buch, oder eine Online-Dokumentation, so war die Grundidee, ja.

Erzähl doch mal etwas vom Entstehungsprozess des Buches. Was waren vielleicht auch Schwierigkeiten?

Natürlich gab’s einige Schwierigkeiten, manch kleine Panne, aber vor allem gab es glückliche Fügungen. Ganz besonders die Tatsache, dass ich die richtigen Leute um mich hatte, um das Projekt überhaupt zu starten: den Filmer Christian Verch, den Fotografen Kai-Hendrik Schroeder, den Texter Daniel Dreyer und später dann auch Sabrina Peters als Grafikerin. Die Vier hatten und haben auch die meiste Arbeit mit dem eigentlichen Buch, Redaktion, Layout, Kommunikation, Werbung und Verlagsarbeit, Online-Shop und Buchversand. Das alles machen wir nebenberuflich, zu 100 Prozent in Eigenregie. Den Buchdruck haben wir aus eigener Tasche vorfinanziert und hoffen natürlich, dass sich das refinanziert. Da das Projekt nebenberuflich läuft, ging auch etwas Zeit ins Land: 2018 waren die Tattoo- und Interview-Sessions, erst 2023 kam das Buch heraus. Wir waren sehr froh, dass alle Interviewten trotzdem an Bord geblieben sind und wir durch diesen zeitlichen Abstand im Buch zusätzlich auch einen interessanten Blick auf ihr heutiges Leben geben können. Das Buch ist dadurch noch besser, noch wertvoller geworden, weil es zeigt: Alles kann gut werden.

Und in dem Buch stellt ihr wirklich nur Leute vor, die ihre Krankheit überwunden haben, richtig?

Genau. Alle Porträtierten haben ihr selbstverletzendes Verhalten überwunden, hatten professionelle Hilfe und haben sich seit den Tattoo-Sessions 2018 auch nie wieder selbst verletzt.

Michael ist der einzige Mann, der im Buch „ÜBERWUNDEN“ porträtiert wird.

Daher auch der Titel, richtig? Der ist ja wirklich toll, mehrdeutig und sehr plietsch. Erzähl doch noch mal, wie ihr drauf gekommen seid.

Ja, der mehrdeutige Titel kommt wirklich gut an. Den hat sich unser Texter Daniel Dreyer ausgedacht. Die Idee kam ihm morgens beim Rasieren – das war für ihn so ein Aha-Moment wie bei Tom Hanks im Film „Sakrileg“. Er hat dann schnell eine Präsentation gebaut, uns zum Frühstück in ein Café bestellt und uns den Namen und seine Mehrdeutigkeit fachmännisch präsentiert. Dann stand der Name „ÜBERWUNDEN“ fest.

„ÜBERWUNDEN“: Im Buch gibt es acht Protagonist:innen, darunter sind sieben Frauen

Kannst du mal ein paar Protagonist:innen aus dem Buch vorstellen?

Im Buch porträtieren wir sieben Frauen und einen Mann. Zur Zeit der Interviews waren sie zwischen 19 und 34 Jahren alt. Wie schon erwähnt: Gemeinsam haben sie alle, dass sie ihr SVV damals schon überwunden hatten und dafür professionelle Hilfe in Anspruch genommen haben. An typischen Auslösern oder Vorerkrankungen für selbstverletzendes Verhalten bilden sie das ganze Spektrum ab: Depressionen, Borderline, traumatische Erlebnisse, PTBS. Manche wurden Opfer von Missbrauch, manche haben Suizidversuche hinter sich. Besonders berührend an ihren Geschichten sind die Phasen der Entscheidung, sich professionelle Hilfe zu holen, und wer oder was ihnen dabei geholfen hat. Zum Beispiel berichtet Trine von ihrer besten Freundin, die ihr mit einem ganz besonderen Gespür sehr ausdauernd beigestanden hat. Im Fall von Franzi waren gleichzeitig die Liebe und der Abstand zur gewohnten Umgebung entscheidend. Anni konnte sich zur Therapie durchringen, weil sie damit gleichzeitig einer Freundin helfen konnte, die selbst unter Depressionen litt. So haben sich die beiden gegenseitig Kraft gegeben. Es sind bewegende Geschichten von starken Personen, die den Mut haben, ihre Geschichten zu erzählen.

Auf Annis Arm gibt’s jetzt ein schönes Blumenmotiv. Foto: Kai-Hendrik Schroeder

Wie kommt es, deiner Meinung nach, dass mehr Frauen ihre Geschichte erzählen möchten?

Selbstverletzendes Verhalten an sich hat ja viele Ausdrucksformen. Schnittwunden sind eine offensichtliche, aber zum SVV gehören beispielsweise auch Essstörungen, Alkoholmissbrauch, extremes Risikoverhalten. Es gibt Zahlen, die darauf schließen lassen, dass SVV in Form von Schnittwunden bei Frauen häufiger ist als bei Männern. Genau weiß man’s aber nicht, weil es natürlich auch eine Dunkelziffer gibt. Man nimmt auch an, dass Frauen eher zu Autoaggression neigen, während Männer Aggressionen in Form von Gewalt, Raserei im Straßenverkehr oder Alkoholmissbrauch „ausleben“. Für unser Projekt haben sich tatsächlich deutlich mehr Frauen als Männer gemeldet, das spiegelt sich ja auch im Buch wieder. Wir können nur vermuten, warum Frauen eher darüber zu sprechen scheinen als Männer. Vielleicht haben mehr Frauen unseren Aufruf gesehen. Vielleicht scheuen sich Männer, über die vermeintliche Schwäche selbstverletzendes Verhalten zu sprechen. Das kann aber auch ein Vorurteil sein.

Auch Trine hat ihr selbstverletzendes Verhalten überwunden.

Was ist das Ziel des Buches? Mit Vorurteilen aufzuräumen?

Da wir das Thema SVV auf diese Weise publik machen, hoffen wir natürlich, dass jetzt mehr darüber gesprochen wird und Vorurteile aus dem Weg geräumt werden können und dass wir der Stigmatisierung von Betroffenen etwas entgegen setzen können. Wir wissen aber auch, dass das Buch natürlich vor allem von Menschen gekauft wird, die für das Thema SVV eh schon sensibilisiert sind: ehemals Betroffene, Angehörige, Tätowierende und Menschen in Therapieberufen. Letzteren empfehlen wir das Buch, weil es Betroffene direkt zu Wort kommen lässt und einen guten Überblick zum Thema gibt. Wir glauben außerdem, dass das Buch für Angehörige besonders wertvoll sein kann, weil die Geschichten alle einen glücklichen Ausgang haben. Ziel des Buchs ist also auch, Hoffnung zu geben, dass alles gut werden kann, und den Mut aufzubringen, sich professionelle Hilfe zu holen.

Auch Jessica ist eine der Protagonist:innen des Buches. Foto: Kai-Hendrik Schroeder

Hast auch du persönlich durch deinen Job als Tätowierer und die Arbeit am Buch mit Vorurteilen hinsichtlich selbstverletzendem Verhalten aufräumen können?

Klar, immer wieder. Wir alle im Team haben eine Menge über SVV und psychische Gesundheit gelernt. Das können wir immer wieder weitergeben.

Und was ist vielleicht dein Rat an Leute, die das Bedürfnis haben, solche Narben zu kommentieren? Ich denke da grad an die vernichtenden Kommentare, die Protagonistin Saskia in ihrem Job im Krankenhaus bekommen hat.

Unter fast Fremden ungefragt Narben kommentieren? Sollte man genauso wenig machen, wie jemanden auf Kleidung, Aussehen oder Körpergewicht anzusprechen. Wo aber ein Vertrauens- oder Freundschaftsverhältnis besteht, sind offene Gespräche immer wichtig. Das bleibt aber eine sehr individuelle und situationsbedingte Entscheidung. Es fällt schwer, hier einen allgemein gültigen Ratschlag zu geben. Wir sind keine Profis für Psychologie und unser Buch ist kein Ratgeber. Die Geschichten im Buch zeigen auch, dass es keinen Königsweg gibt, wie und wann man Betroffene am besten anspricht. Grundsätzlich sind Totschweigen und Tabuisieren aber nie eine Lösung.

Bei der Arbeit an Franzis Arm. Foto: Kai-Hendrik Schroeder

Was habt ihr schon für Feedback auf das Buch erhalten?

Durchweg Positives, bisher. Hoffentlich bleibt das so. Aus dem Umfeld von Betroffenen bekommen wir viel Dankbarkeit und Erleichterung, dass das Thema mal besprochen wird.

„ÜBERWUNDEN – Tattoos auf Narben der Vergangenheit“ (136 Seiten, 30 Euro) von Daniel Bluebird, Daniel Dreyer, Sabrina Peters, Kai-Hendrik Schroeder und Christian Verch ist im Selbstverlag erschienen. Man kann es unter ueberwunden.com kaufen. Das Projekt ist auch Teil der „Flæsh – Tattookunst in Deutschland“-Doku, die in der ARD-Mediathek zu sehen ist.

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