Am zweiten Tag des Reeperbahn-Festivals (RBF) gab es keine Ablenkungen mehr durch beeindruckende Überraschungs-Gigs von Kraftklub oder einer Eröffnung mit vielen Stars. Es ging um das, was das RBF ausmacht: Echte Club-Konzerte und die Entdeckung von Acts, die noch nicht die großen Stars sind, aber alle das Zeug dazu haben, es mal werden zu können. MOPOP war wieder mittendrin dabei.
Gemeinschaftsgefühle mit Vlure im Nochtspeicher
Das Konzert ist keine fünf Minuten alt, da hängt Sänger Hamish Hutcheson schon das Mikrofonkabel aus dem Mund. Vlure aus Glasgow sind heute Abend da, um zu gewinnen: das Publikum, und wenn am Ende noch der „Anchor“-Nachwuchspreis bei rausspringt – auch fein! Die Musik schöpft aus allem, was man laut aufdrehen kann: Punkrock, Industrial, Techno, dazu wird mit schwerem schottischen Zungenschlag gemotzt und gebrüllt. Von der Intensität ist das ungefähr so, als hätten Fontaines D.C. in ihrer Jugend nicht James Joyce gelesen, sondern The Prodigy gehört. Kurz vor Ende macht Hutcheson noch einen Ausflug in den Zuschauerraum, um den Leuten mal direkt ins Gesicht zu singen. Könnte bei dem volltätowierten Halbnackten auch eine Spur bedrohlich wirken, ist in der Ausführung aber eine berührend harmonische Geste der Gemeinschaft. Einverstanden, lassen wir mit uns machen: Der Nochtspeicher feiert’s.
The Haunted Youth im Nochtspeicher: Klingen wie ausgedacht
Dagegen hat es die nächste Band im Nochtspeicher (und im „Anchor“-Wettbewerb) schwer: The Haunted Youth klingen nicht wie eine Newcomerband, eher wie vom Algorithmus ausgedacht: Wer lieber Playlists hört als Alben, den stören auch die Songs der Belgier nicht. The Cure stecken drin, Smashing Pumpkins, The Jesus And Mary Chain, alles, was ein bisschen schwebt und Platz für Melodien hat. Überhaupt nicht schlecht, aber auch ziemlich überraschungsarm. „Kompetent“ ist halt nicht das beste Attribut für Rockmusik.
Yatwa: Menschenfänger in der Spielbude
Auf dem Spielbudenplatz machen Yatwa dafür ordentlich Schau. Ihren Namen haben die Österreicher irgendwann eingekürzt, weil You And The Whose Armies irgendwie zu unhandlich war. (Sie erklären es dann allerdings doch, womit ja nun niemand Zeit gespart hat.) Die Musik ist Indierock mit sehr viel Bewegungsdrang auf der Bühne, der schnell auch auf die Zuschauer:innen überspringt. Die werden sogar immer mehr: 1A Menschenfang auf der Reeperbahn.

Gruenspan: Destroyer mit granteligstem Frontmann im Indie-Geschäft
Dan Bejar ist wahrscheinlich der granteligste Frontmann im Indie-Geschäft, ein niemals lächelnder Bärbeiß, der mit androgyner Stimme die schönsten Lieder singt. Im Gruenspan setzen Destroyer angenehm auf Lautstärke (keine ausgemachte Sache bei der Band), neben neuen Nicht-Hits wie dem elektronisch pochenden „Tintoretto, It’s For You“ gibt es Schwelgerisches wie „Times Square“ und avantgardistische Trompeten-Drones. Man hätte sich ein bisschen mehr Publikum hier gewünscht, aber die auf der Bühne stört’s nicht: Denen ist klar, dass sie gerade ein richtig gutes Konzert spielen. Und hey, hat Bejar da beim Schlussapplaus nicht doch für eine Sekunde gelächelt?

Skinny Lister mit Pub-Stompern im Gruespan
Die englische Band Skinny Lister ist ein gern gesehener Gast auf dem Reeperbahn-Festival und war schon mehrfach da. Ihren Auftritt am Donnerstag im Gruenspan bezeichneten sie aber als ihren bisher besten auf dem Festival und lobten auch immer wieder die schöne Location. Ihr „Shanty Punk“ ist immer wieder mitreißend, sodass man sofort in Bierlaune gerät, die Chöre mitgrölt, die ganze Zeit fest auf den Boden stampft und Frontfrau Lorna Thomas, während sie mitten in der Menge tanzt, fest drücken will. Die Skinnys können aber nicht nur echte Pub-Stomper, sondern auch so herrliche Balladen wie „Colours“ oder „Bonny’s Eyes“, ein Liebeslied für die gemeinsame Tochter von Lorna und Frontmann und Gitarrist Daniel Heptinstall (die auch ein Ehepaar sind). Auch immer wieder ein Highlight: Das von Maxwell Thomas (Lornas Bruder) gegrölte „John Kanaka“, der an seinem Akkordeon auch einfach ein verrückter Berserker ist. Too Rye Ay!“ – was für eine „Listermania“.
Sebastian Madsen mit fünf Songs (+1) im Bahnhof Pauli
Am 30. September erscheint das soulig-bluesige Solo-Album „Ein bisschen Seele“ von Madsen-Frontmann Sebastian. Kurzfristig eingesprungen gab er am Donnerstag im Bahnhof Pauli eine Live-Kostprobe von fünf Songs. „Wir haben heute zum ersten Mal alle zusammen geprobt, deswegen können wir noch nicht mehr spielen“, gibt Sebastian lachend zu. Seine Band? Sein Bruder Sascha an den Drums, seine Freundin Lisa als Gesangspartnerin an mehreren Instrumenten und das Multitalent Anne de Wolff. Besonders die schon veröffentlichte Single „Immer nur am Handy“ macht live noch um einiges mehr Spaß als auf Platte. Überhaupt kein Problem, dass der Song als Zugabe noch mal gespielt wurde.
Lola Marsh im Gruenspan: Draußen Kälte, drinnen sonniger Sound
„Leute, ich hab’ völlig falsch gepackt“, sagt Yael Shoshana Cohen Richtung Publikum und lacht. „Ich hab komplett vergessen, dass es hier ja kalt ist! Hat jemand ne Jacke für mich?“ Man kann es sich gut vorstellen, dass die Sängerin nicht an Wind und Wetter denkt, so sonnig ist der Indiepop der Band aus Tel Aviv. Im gut gefüllten Gruenspan wird geschunkelt, getanzt (sogar nach Choreografie!) und im Takt geklatscht. Yael Shoshana Cohen strahlt, schmeißt Herzchen Richtung Publikum. Auf der Setlist „Only For A Moment“, „Love Me On The Phone“ und – ganz neu – „Satellite“. „Nehmt es mir nicht übel, wenn ich den Text verhaue“, sagt sie, „das ist das zweite Mal, dass wir den Song live spielen.“ Natürlich macht sie keinen Fehler, alles ist perfekt. Findet auch die Band, die sich unter Jubel mehrfach verbeugt. Das Mikro ist längst aus, da ruft sie Richtung Publikum: „We love you, we really do! You’re perfect!“

Brimheim im Indra: Artsy Indierock, den man nachhören muss
Der dänische Abend im Indra – immer eine verlässliche Bank in Sachen neuen Sounds. Entsprechend muckelig ist es in dem kleinen Club auch, als Brimheim auf die Bühne kommen. Dass es hier oft was zu entdecken gibt, das hat sich längst rumgesprochen. Die Band ist hier, „um unsere internationale Karriere zum Laufen zu bringen”, wie die färöischen Sängerin Helena Heinesen Rebensdorff mit einem glockenhellen Lachen sagt, um dann mit der düsteren Musik loszulegen. Drei Gitarren, Bass und Schlagzeug – Indierock, aber artsy. Und sicherlich ein intensiveres Nachhören wert. (JAK/FRED/NR)
