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Disarstar: Vom Kriminellen zum rappenden Marxisten


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Der Rapper Disarstar (27) am Spielbudenplatz. Der Kiez ist seit zehn Jahren seine Heimat. Trotz des Erfolgs lebt er noch immer in seiner alten Wohnung. Foto: Marius Röer

Der Hamburger Rapper ist aktueller Gast im MOPO-Podcast „Kiezmenschen“ – MOPOP hat das ausführliche Porträt!

Von Wiebke Bromberg und Marius Röer

Schwere Kindheit. Hatte er. Schiefe Bahn. Ebenfalls. Vorstrafen. Einige. Klingt nach der klassischen Gangster-Biografie. Doch das Klischee vom prolligen Straßen-Rapper will so gar nicht zu Disarstar passen. Statt dicker Kohle sehnt sich der Musiker nach Gerechtigkeit. Nach Gleichheit. Der erklärte Marxist sieht die Schere zwischen arm und reich – Tag für Tag. Gerrit (27) lebt seit zehn Jahren auf dem Kiez. Seine Heimat. „Der Ort, der so viel gibt. Aber auch nimmt.“ Ihm hat er mehr gegeben. Auf St. Pauli wurde aus dem Jungen aus schwierigen Verhältnissen ein bekannter Rapper, der sein Abitur nachholte und mittlerweile Jura studiert.

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Zehn Minuten zu spät. Der junge Mann mit der olivgrünen Jacke, Turnschuhen und schwarzer Mütze kommt den Gehweg entlang gehastet. „Tut mir leid. Gerade extrem viel los“, entschuldigt sich der Rapper mit müdem Lächeln. Er wirkt angespannt. Sein fünftes Album „Deutscher Oktober“ ist vor wenigen Tagen erschienen. „ Daran haben viele Leute mitgearbeitet. Die Erwartungen sind hoch.“ Nicht zuletzt auch die des Künstlers. Sein großes Thema auf dem neuen Album sind Kontraste. „Man nimmt alles anhand von Kontrasten wahr. Wie in meinem Viertel.“

Gerrit oberhalb des Hafens mit seinem wilden Hund Texas, den er von einer Tierschutzorganisation hat. Foto: Marius Röer

Sein Viertel: Das ist seit zehn Jahren St. Pauli. Der Ort, den er seine Heimat nennt. An dem er die wichtigste Zeit seines Lebens verbracht habe. Und an dem der Rapper trotz seines Erfolgs noch immer in der Wohnung lebt, in die er bereits als 17-Jähriger zog. Damals. Als das Jugendamt Gerrit aufforderte, sich selber um eine Wohnung zu kümmern. Er hatte keinen Bock. Auf St. Pauli wurde ihm eine vorgeschlagen. Der Jugendliche wollte das „leidige Thema hinter sich bringen“ und ging zur Besichtigung. Zwei andere Bewerber waren kopfschüttelnd gegangen. Er blieb. Bis heute. „Ich lebe zusammen mit meinem verrückten, wilden, anstrengenden Hund Texas. Den habe ich von einem Tierschutzverein aus Ungarn bekommen“, sagt der Mann und zieht an seiner Zigarette.

Seit ich hier auf St. Pauli lebe, ist von der alten Romantik viel flöten gegangen.

Gerrit alias Disarstar (27)

Wie er den Kiez erlebt? Der Künstler droht mit einer halben Stunde Monolog. Keine Seltenheit. Gerrit ist bekannt für ausschweifende Erklärungen. In der Regel politischer Natur. Er lacht und verspricht, sich kurz zu halten. „Seit ich hier lebe, ist von der alten Romantik viel flöten gegangen.“ In Zeiten von Corona hat er den Stadtteil noch mal anders erlebt. „Ohne die Verwässerung und blinkenden Lichter wird einem das Elend noch bewusster.“ Auch für den Rapper ging es auf dem Kiez nicht immer nur bergauf. Er hatte harte Zeiten. Damals. Als er Gerrit war. Der Junge, der sich nicht anpassen will. Ein Problem mit Autoritäten hat.

Wenn ich über meine kriminelle Zeit spreche, habe ich manchmal das Gefühl, nicht über mich selbst zu sprechen.

Disarstar

Wie genau er aufgewachsen ist, was er erlebt hat – darüber redet der aus Schnelsen stammende Musiker nicht. Privatsache. „Allgemein waren meine Kindheit und Jugend turbulent. Ich war sehr lebhaft und hatte eine klare Meinung. Da bin ich im Kindergarten und in der Schule häufig angeeckt.“ In der fünften Klasse flog Gerrit das erste Mal von der Schule. In der siebten wieder. „Ich hatte ganz andere Sachen, mit denen ich mich auseinandersetzen musste und konnte mich nicht so auf die Schule konzentrieren, wie es nötig gewesen wäre.“ Als er 15 war, holte ihn das Jugendamt von zu Hause raus. Gerrit kam in eine trägereigene Wohnung in Eimsbüttel. Er lebte alleine, musste sich aber zweimal in der Woche für vier Stunden mit seinem Betreuer treffen. Zu viel Freiheit. Der Jugendliche wurde straffällig. Von Raub, räuberischer Erpressung, Körperverletzung bis hin zu Drogendelikten. „Heute tut es mir leid, dass ich anderen Leuten Schaden zugefügt habe.“ Allerdings hat ihn sein Leben zu dem gemacht, der er heute ist. Und mit dem ist er sehr zufrieden. „Wenn ich über meine kriminelle Zeit spreche, habe ich manchmal das Gefühl, nicht über mich selbst zu sprechen. Das ist alles so weit weg“, sagt der Musiker und schüttelt den Kopf.

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Sein altes Leben hat er in großen Teilen hinter sich gelassen. Was geblieben ist, sind seine Freunde. Heute macht Gerrit viel Sport. Er geht laufen, pumpt, spielt Fußball im Verein. In welchem, darüber spricht er nicht. Woraus er kein Geheimnis macht: Der Kiezianer ist leidenschaftlicher HSV-Fan. Wie sein Opa. Echt jetzt? „Wenn ich mich in meiner Nachbarschaft umhöre, ist das gar nicht so eigenartig. Ich habe Fußball nie politisiert und freue mich auch, wenn St. Pauli gewinnt. Außer, wenn sie gegen den HSV spielen.“

Disarstar ist HSV-Fan – er ist sogar Feature im aktuellen Song der HSV-Band Abschlach!

Den Ausstieg schaffte Gerrit mit Hilfe von Leuten, die ihm das Gefühl gaben, er könne auch „ein Anderer sein“. Besonders ein engagierter Sozialarbeiter war seine Rettung. Er half dem Jugendlichen beim Aufrichten. Gerrit sprintete los. Er feierte erste Erfolge als Disarstar und holte mit Anfang 20 sein Abitur auf dem Abendgymnasium nach. „Das war auch eine Art Kompensation von Komplexen. Ich war immer der Meinung, dass ich mein Abitur packe.“ Zu der Zeit konnte er zwar bereits gut von seiner Musik leben, aber ihm war klar: „Nur das kommt für mich auch nicht in Frage.“

Disarstar studiert momentan neben der Musikkarriere Jura

Der Künstler geht auf Nummer sicher. Er will eine Perspektive. Deshalb studiert Gerrit nebenbei Jura. Wie er darauf gekommen ist? „Weil ich immer alles besser weiß“, sagt der junge Mann und grinst. Allerdings läuft es gerade nicht so gut. „Wegen Corona.“ Aha. Nur wegen Corona? Nicht ganz. „Alles was an dem Studium Spaß macht, fällt weg. Alles was keinen Spaß macht, bleibt bestehen. Wenn man dann sowieso so viel um die Ohren hat, kann die Motivation schon mal zu kurz kommen.“ Ob Jura wirklich das Richtige ist, weiß Gerrit noch nicht. Eigentlich wollte er immer Geschichte oder Philosophie studieren. „Aber ich mache schon beruflich was Brotloses, auch wenn es momentan Brot bringt. Da wäre es nicht so schlau, noch ein Hobby zum Beruf zu machen.“ Zwar bastelt er an einer sicheren Zukunft, eigentlich will Disarstar aber nichts anderes als Musik machen.

„Ich rauche zu viel“ stellt Gerrit beim Spaziergang auf St. Pauli fest. Foto: Marius Röer

 

Der große Durchbruch ist bisher allerdings ausgeblieben – obwohl Disarstar als einer der technisch besten Rapper Deutschlands gilt. Wie das kommt? Der Musiker lächelt. Er steckt sich erst mal eine Zigarette an. „Der Wert von Kunst ist nicht in Zahlen zu messen. Man muss sich überlegen, welcher Künstler man sein will.“ Der Rapper kommt mit einem Vergleich. Max Uthoff und Claus von Wagner aus der Politsatire „Die Anstalt“ würden eine hochwertigere und besser recherchierte Kunst liefern, als Comedian Mario Barth. „Aber das hat einen anderen Anspruch an den Adressaten.“ Und genau das sei der Grund, warum die Beiden niemals so viele Karten verkaufen würden wie Mario Barth. „Und auch ich bin nicht Mario Barth, wollte ich auch noch nie sein und werde ich nicht sein.“ Gerrit weiß, dass seine Musik nicht immer leicht konsumierbar ist. Sie ist kompliziert, verlangt den Fans einiges an Wissen ab. Es ist ihm egal. Disarstar hinterfragt, klagt an, politisiert. Er will Musik machen. Aber nicht um jeden Preis.

Disarstars aktuelles Album „Deutscher Oktober“ ist bei Warner erschienen und steht gerade auf dem fünften Chartplatz.

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