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Tocotronic im Interview: „Unsere Songs passen zur Pandemie“

Seit 1994 am Start - deswegen haben Tocotronic eine Best-of-Werkschau veröffentlicht.
Seit 1994 am Start - deswegen haben Tocotronic eine Best-of-Werkschau veröffentlicht. Foto: Michael Petersohn
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Tocotronics Best-of-Werkschau „Sag alles ab“ wurde gerade veröffentlicht. MOPOP war bei Gitarrist Rick McPhail zu Hause im Studio zu Besuch – Sänger Dirk von Lowtzow schaltete sich per Video-Call dazu. Corona macht’s möglich. Das Gespräch handelt – natürlich – von der Pandemie, Sex im Proberaum, dem Älterwerden und der Sehnsucht nach Konzerten.

2007 haben Sie den Song „Sag ab alles“ herausgebracht. Und Ihre gerade erschienene umfassende Werkschau haben Sie auch so getauft. Song und Titel passen ja perfekt zur Corona-Zeit!

Dirk von Lowtzow: Das ist ein Zufall – hellseherische Fähigkeiten hatten wir 2007 nicht! (lacht) Viele unserer Stücke handeln von Isolation und einem Gefühl vom Dagegen- und Nicht-Im-Einklang-Sein mit der Umwelt. Da passt also einiges zur Pandemie. Die Werkschau ist mit ihren Raritäten, Outtakes und 72 Titeln sehr umfangreich. Wenn man die durchhören will, muss man tatsächlich alle Termine absagen. (lacht)

Rick McPhail (50) lud MOPO-Redakteurin Frederike Arns (34) in sein Hamburger Studio ein. Frontmann Dirk von Lowtzow (49) war per Video dabei. Foto: Marius Röer

So eine Werkschau erwartet man eigentlich zum runden Geburtstag. Sie sind aber gerade im 27. Bandjahr … Wie kommt‘s?

Dirk von Lowtzow: Für August und September hatten wir zwei große Retrospektiv-Konzerte in unseren beiden Bandheimaten geplant: „The Hamburg Years (2003-1994)“ und „The Berlin Years (2020-2004)“, bei denen wir nur Songs aus diesen Zeiten spielen wollten. Die Werkschau war als Geschenk obendrauf gedacht. Wegen Corona bleibt jetzt nur das Album übrig. Mit den Bandjahren haben wir auch ein bisschen geschummelt. Eigentlich war der Fixpunkt, dass vor 25 Jahren unser Debütalbum „Digital ist besser“ erschienen ist. Aber je älter man wird, desto ungenauer sieht man das mit dem Alter: 25 oder 27 Jahre – wer weiß das schon? Das vermittelt uns das Gefühl, dass wir noch gar nicht so alt sind … (lacht)

Nichts für ungut: Sie sind echt nicht mehr die Jüngsten. Haben Sie den Rock’n’Roll-Lifestyle begraben?

Rick McPhail: Ja, ich bin jetzt 50! Eine harte Zahl. Alles tut jetzt mehr weh und ich kann nicht mehr so viel trinken. Wobei: Am Wochenende war ich zweimal hintereinander aus und hatte keinen Kater.

Dirk von Lowtzow: Nicht schlecht, Rick! Alt bin ich mit 49, das steht außer Frage. Aber ich unterscheide auch immer zwischen biologischem und sozialem Alter – und da fühle ich mich noch nicht so alt. Was den Rock’n’Roll betrifft, passe ich heutzutage definitiv besser auf mich auf, denn in meinen jüngeren Jahren habe ich es ziemlich übertrieben. An viele Dinge aus den 90ern kann ich mich deswegen kaum noch erinnern. Rick konnte das schon immer gut: im Exzess diszipliniert sein.

Tocotronic sind seit 27 Jahren dabei

Cover Tocotronic - Sag alles ab - Universal
Tocotronic – „Sag alles ab“ (Universal)

Sind Sie wegen Corona fauler geworden? Es ist ja kulturell und musikalisch viel weniger los.

Dirk von Lowtzow: Ich bin immer faul. (lacht) Deswegen war das für mich nicht so eine gigantische Umstellung. Mir hat Kino nur sehr gefehlt. Ich bin sehr froh, dass nun kleiner Arthouse-Kinos wieder geöffnet sind.

Rick McPhail: In den ersten Wochen war ich sehr faul und habe viel Quatsch auf YouTube geguckt. Aber wir haben ja auch an einer ganz neuen Platte gearbeitet.

Dirk von Lowtzow: Du hast völlig recht, so faul waren wir gar nicht. Wir waren im Juni im Berliner „Hansa-Studio“ und haben die Aufnahmen abgeschlossen. Wegen Corona können wir noch nicht genau sagen, wann das Album kommt – das legen wir jetzt erst mal in die Schublade.

Hat Corona Ihre kreative Energie eingeschränkt?

Dirk von Lowtzow: Das fühlte sich schon wie ein Alptraum an, als ich gemerkt habe, dass das Virus immer stärker ins Leben eingreift. Als dann klar war, dass wir unsere Konzerte nicht spielen können, haben wir uns mit der Situation abgefunden. Aufgrund dieser Ruhe konnten wir uns sehr aufs Album fokussieren. Das hatte also auch seine glücklichen Momente.

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Tocotronic – „Hoffnung“

Waren Sie dann beim Proben und im Studio besonders vorsichtig?

Rick McPhail: Für die Aufnahmen bin ich ja im überfüllten Zug von Hamburg nach Berlin gependelt. Da war ich allem ausgesetzt, weil die Leute da teilweise ihre Masken nicht getragen haben. Und klar: Mit Mundschutz zu singen oder Schlagzeug zu spielen geht nicht. Aber dafür gibt’s ja gute Lüftungen.

Dirk von Lowtzow: Ja, im Proberaum sind wir uns schon sehr nah. Aber eher gedanklich und im Herzen – wir haben da ja keinen Gruppensex. (lacht) Wir sitzen oder stehen da an unseren Instrumenten und spielen. Das geht schon in Ordnung.

„Wir haben ja keinen Gruppensex im Proberaum.“

Frontmann Dirk von Lowtzow (49)

Ist Ihre Sehnsucht nach Konzerten groß?

Rick McPhail: Die beiden großen Tocotronic-Konzerte hätte ich aus finanziellen Gründen schon gerne gespielt. Immerhin habe ich mit meiner anderen Band Mint Mind live gespielt. Ich hätte gedacht, dass es öde für die Menschen wird, weil sie an Biertischen sitzen und nicht tanzen und mitsingen dürfen. Aber die Leute haben sich damit arrangiert und waren trotzdem begeisterungsfähig.

Dirk von Lowtzow: Ich kann es seelisch verkraften, dass ich dieses Jahr keine Konzerte spielen werde. In mir ist eher das Gefühl der Unsicherheit. Wir wissen einfach nicht, wann es weitergeht. Was ist, wenn wir in einem Jahr immer noch nicht wieder spielen dürfen?

Wie geht es Ihrer Crew?

Dirk von Lowtzow: All diese Menschen sind gerade in einer fatalen Lage, das ist ein großes Problem. Techniker, Veranstalter, Booker und Clubbetreiber konnten nie groß Rücklagen bilden oder andere Einnahmen generieren. Wir Musiker haben ja vielleicht noch was gespart oder verdienen durch Plattenverkäufe und GEMA.

„Für die Einnahmen-Achterbahnfahrt bei Musikern fehlt beim Finanzamt oft das richtige Verständnis.“

Gitarrist und Keyboarder Rick McPhail (50)

Müsste die Politik der Branche mehr unter die Arme greifen?

Rick McPhail: Das Problem in der Musikbranche ist, dass wir nicht linear und konstant verdienen. Es gibt Hochphasen im Sommer, aber auch große Einkommens-Löcher. Aber um die Hilfen zu bekommen, muss man so Fragen beantworten wie „Welche Verluste hatten Sie in den letzten drei Monaten?“ So im Detail kann man das dann oft gar nicht sagen und dann entfällt der Anspruch. Im Steuersystem fallen Selbständige, Musiker und Künstler leicht hintenüber. Es gibt Jahre, in denen man gut verdient und andere, in denen man fast nichts verdient. Wir müssen unser Geld eben aufteilen und sparen. Für diese Einnahmen-Achterbahnfahrt fehlt beim Finanzamt oft das richtige Verständnis.

Das Album „Sag alles ab – The Best of 2020 – 1994“ (Universal) gibt’s als 4 CD Deluxe-Edition mit Earbook, 3 LP Best of, 2 CD Best of oder 2 LP Raritäten unter sagallesab.tocotronic.de. Das längst ausverkaufte Konzert findet am 13.08.2021 im Stadtpark statt.

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