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Neues Buch über Graffiti in Hamburg: „Wir sind mit diesem Projekt immer auf Liebe gestoßen“


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Die Herausgeber von „Eine Stadt wird bunt“: Mirko „DAIM“ Reisser (v.l.), Oliver „Davis One“ Nebel, Frank Petering und Andreas „Cario“ Timm. Foto: Eine Stadt wird bunt

Das Buch „Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980 – 1999“ ist heute erschienen. Die Herausgeber Oliver „Davis One“ Nebel, Frank Petering, Mirko „DAIM“ Reisser und An­dreas „Cario“ Timm könnten nicht „realer“ sein, denn sie sind alle seit den 80ern in der Szene verwurzelt. Auf 560 Seiten, mit 1.300 Bildern und vielen Texten zeichnet das Buch die äußerst spannende Graffiti-Geschichte unserer Stadt nach. MOPOP sprach mit zwei der Herausgeber über die harte Arbeit und den Spaß am Buch und ihre Liebe zu Graffiti und HipHop.

„Don’t Cry, Work“ von Pac Man und Nofu stammt aus dem Jahr 1984. Es war am Kaltenkirchener Platz zu sehen, wenn man von Altona Richtung Holstenstraße fährt. Allerdings ist um 1985 herum ein großes Stück vom Putz herausgebrochen. Viele kennen es deswegen nur mit einem Riesenloch. Die Herausgeber freuen sich sehr, dass sie das Werk im Buch komplett zeigen können. Foto: Heiko Westphal

 

MOPOP: Wie seid ihr auf die Idee gekommen, dieses Buch zu machen? Das ist ein dickes Ding mit seinen 560 Seiten und zeugt von sehr viel Arbeit.

Mirko „DAIM“ Reisser: Ja, wir haben über fünf Jahre daran gearbeitet – es war von vornherein klar, dass es ein Buch werden muss und das Projekt nicht digital umgesetzt werden sollte. Wir kommen alle vom Print und sind auch große Fans davon. Die anderen drei haben alle selbst Graffiti-Magazine herausgebracht und beim Hamburger HipHop-Magazin „Backspin“ gearbeitet, das Frank Petering mitgegründet hatte – und ich bin großer Graffiti-Buch- und Magazin-Sammler. Unser Ziel war es, mit dem Buch die Entstehung der Hamburger Graffiti-Szene von Anfang an zu erzählen. Natürlich auch, um den Nährboden unserer eigenen, persönlichen Graffiti-Geschichten besser zu verstehen.

Oliver „Davis One“ Nebel: Unser Zeitraum liegt zwischen 1980 und 1999. Wir wollten mit „Eine Stadt wird bunt“ unbedingt den allerersten Sprayern und ihren ersten Strichen und Sprüchen Respekt zollen.

Reisser: Das ist ein schönes Gefühl, die Leute in unserem Buch zu haben, die heute teilweise auch schon vergessen sind. Diese erste Graffiti-Generation hatte teilweise schon wieder aufgehört, als wir Mitte/Ende der 80er angefangen haben.

CanTwo und Jase 1988 vor ihren Pieces bei „Pein & Pein“ in Halstenbek. Foto: Fedor Wildhardt

 

Es war sicher schwer, diese Leute überhaupt zu finden.

Reisser: Nach manchen haben wir jahrelang gesucht.

Nebel: Manche waren quasi unsere Nachbarn – aber das wussten wir ja nicht.

Hat Hamburg eigentlich eine Vorreiter-Stellung, was Graffiti betrifft?

Nebel: Nicht wirklich, aber Hamburg hat schon auch eine wichtige Stellung eingenommen, weil wir so gut vernetzt waren. So hat sich hier eine riesige, offene Szene gegründet. Die Leute wussten irgendwann einfach, dass in Hamburg viel los war und dass es auch ein super Bahnsystem und viele freie Flächen zum Malen gab.

Reisser: Durch den Breakdance- und HipHop-Film „Wild Style“ ging es in den westlichen deutschen Städten um 1983/1984 überall gleichzeitig los. Der Film hat eine riesige Welle ausgelöst. Dadurch sind wir mit vielen anderen Städten auch auf einem Level. Aber Hamburg hat sich natürlich auch speziell entwickelt, beeinflusst durch Punk und die Entwicklungen rund um die Hausbesetzer-Szene.

King Zack posiert neben seinem "Zack"-Piece, gesprüht direkt am „Jungfernstieg Corner“ am 22. Juni 1987, wie das Datum am Bild verrät. Foto: Sali Landricina

 

Im HipHop sind grundsätzlich alle Elemente miteinander verknüpft. Deswegen geht es im Buch nicht nur um Graffiti, sondern auch um Musik. Ein spannender Fakt, von dem sicher noch nicht viele wissen, ist: Der Beatles-Entdecker und Star-Club-Gründer Horst Fascher hat für die Hamburger HipHop-Szene auch eine wichtige Rolle gespielt.

Reisser: Genau, sein Sohn David Fascher war auch ganz früh Sprüher und Breaker. Horst Fascher hat schnell das Potenzial von alledem erkannt, dann die berühmte Rock Steady Crew und Mr. Robot gemanagt und sie aus New York nach Europa geholt. Er unterstützte dann auch die „Bravo“, 1984 eine deutsche Breakdance-Meisterschaft zu veranstalten. Deswegen – und auch wegen weiterer Filme wie „Beat Street“ und „Style Wars“ – hat sich die Breakdance-Welle entwickelt.

Und zwischen Punk und HipHop gibt’s in Hamburg auch eine Verknüpfung.

Reisser: Ja, die Punkrock-Szene war Ende der 70er, Anfang der 80er stark. Aber einige von genau diesen Punks haben dann Hip-Hop entdeckt – deswegen vermischen sich da die Einflüsse. Zum Beispiel Thies Reichow alias „MadCanMan“: Der hat damals auch gesprüht und hatte schon 1979 seine erste Punkband gegründet. Der wiederum war mit Ale Dumbsky, dem Buback-Gründer und Goldene-Zitronen-Drummer, zusammen in einer Klasse. Dumbsky hat sich dann Anfang der 90er entschieden, bei Buback, das ja erst ein Punklabel war, auch deutschen Hip-Hop zu veröffentlichen. Und dann gab es wiederum André Luth, den Gründer von Yo Mama, wo Fettes Brot und Fünf Sterne Deluxe zum Beispiel unter Vertrag waren. Die beiden haben in Hamburg wichtige Weichen für den deutschen Hip-Hop gelegt.

„Tapeten Hesse“ war der erste, der gesagt hat: Wir verkaufen jetzt günstig Sprühdosen an die Sprüher. Dort gab es dann auch Fotos und Graffiti-Magazine zu kaufen. Der Geschäftsinhaber ist auch losgegangen und hat Sprühköpfe für Dosen besorgt. Vorher musste man die von den Deo-Dosen klauen

Oliver „Davis One“ Nebel

Nebel: Hamburg hat insgesamt unheimlich viele Impulse für HipHop gesetzt. Auch was Graffiti-Läden betrifft: „Tapeten Hesse“ war der erste, der gesagt hat: Wir verkaufen jetzt günstig Sprühdosen an die Sprüher. Dort gab es dann auch Fotos und Graffiti-Magazine zu kaufen. Der Geschäftsinhaber ist auch losgegangen und hat Sprühköpfe für Dosen besorgt. Vorher musste man die von den Deo-Dosen klauen, er hat sie in den Werken besorgt, um sie an die Sprüher zu verkaufen.

Für das Buch wurden 400.000 Bilder gesichtet, 1.300 sind darin gelandet.

 

Wie kommt es, dass ihr vier zusammen das Buch herausbringt?

Reisser: Es ist einfach toll, das mit Leuten zu machen, mit denen man seit 30 Jahren befreundet ist. Jeder von uns hat sein Know-How und seine Kontakte mit ins Projekt gebracht. Entscheidend ist, dass wir alle aus einer Zeit kommen, wo Graffiti und HipHop völlig neu waren. Das war eine Zeit, in der viele die ganzen Begriffe dafür noch nicht mal kannten. Wir waren eine kleine überschaubare Gruppe aus Menschen, die das Gefühl hatten, etwas Besonderes zu sein. Aber das wurde natürlich auch ausgelacht und nicht verstanden. Auch wir vier sind alle von Anfang an mit dem Gefühl sozialisiert, daran zu glauben, was wir da machen. Und wir haben eben auch das Bedürfnis, das nach außen weiterzutragen. Das wird auch gut im letzten Artikel des Buches „Dokumentieren, publizieren und kommerzialisieren“ von Dennis Kraus herausgestellt. Jeder, der sprüht, macht Fotos davon, um es seinen Freunden zu zeigen. Und irgendwann will man auch, dass diese Fotos vielleicht in einem Magazin gezeigt werden, damit das auch Leute in anderen Städten sehen.

Nebel: Früher hast du auch immer sofort an den Klamotten erkannt, ob das ein echter HipHopper ist. Heute läuft jeder so herum. Aber das zeigt halt auch, dass diese Liebe, die einst von dieser noch kleinen Gruppe weitergetragen wurde, Früchte getragen hat.

Und trotzdem wird Graffiti immer noch als Schmierereien bezeichnet.

Nebel: Das sind Unterschriften, das ist wie eine Tageszeitung. Man kann an den Wänden lesen.

Reisser: Aber das ist nur eine Seite. Es ist auch spannend zu sehen, wie unglaublich groß, erfolgreich und facettenreich sich diese ganze Szene entwickelt hat. Mittlerweile gibt es auch Auktionserfolge und Kunstmessen. Es ist so divers geworden.

Ein Zugbegleiter bei der Ankunft der Linie S4 am Bahnhof Hasselbrook. Neben dem "Gipsy186"-Panel ein „Alfa“ und ein „Kits“ aus dem Jahr 1995. Foto. Andreas „Cario“ Timm/Eine Stadt wird bunt

 

Apropos Diversität: Den Buchtitel bezieht ihr auch darauf, oder?

Reisser: Genau. Damit meinen wir nicht nur die Farbe. Die Stadt ist durch die Graffiti- und HipHop-Szene ja unglaublich reich und divers geworden. Das ist heute selbstverständlich, dass du diese Einflüsse aus den 80ern in Grafikagenturen, Mode und Musik wiederfindest. Weil die Leute aus unserer Genration da jetzt an den Hebeln sitzen.

Waren eigentlich auch Frauen schon Teil der Szene in den 80ern?

Nebel: Wir haben festgestellt, dass die Frauen oft die besten Fotos geliefert haben. Die haben noch öfter draufgehalten, wenn es um die Personen ging. Die Sprüher selber haben sich meistens nur fürs Werk interessiert. Aber es gab auch einige Sprüherinnen, die wir im Buch zeigen.

Was hat euch an der Arbeit am Buch am meisten Spaß gemacht?

Nebel: Alle haben uns die Türen geöffnet. Wir sind mit diesem Projekt immer auf Liebe gestoßen. Es hieß immer: Ja, komm‘, ich hab‘, nimm‘! Und die wussten ja gar nicht, was bei dem Buch herauskommt. Deswegen sind wir jetzt auch sehr gespannt, wie alle Beteiligten auf das Ergebnis reagieren. Da steckt natürlich viel HipHop, Graffiti und Breakdance drin, aber eben auch Stadtentwicklung und wissenschaftliche Beiträge, wo ich am Anfang noch gesagt habe: Muss das sein? Können wir nicht noch mehr Züge zeigen? Aber nein, erst mit alledem ist das Buch wirklich rund.

In den 80ern und frühen 90ern nutzten die Writer noch Autolack-Dosen aus Baumärkten und Marker und Stifte. Erst in der zweiten Hälfte der 90er Jahre entdecken langsam einige Sprühdosenfabrikanten die Writer als lukrative Abnehmer und passen ihr Marketing sowie ihre Produkte entsprechend an. Foto: Andreas Timm, Christian Bartels, Frank Petering, Oliver Nebel, Desk7/Eine Stadt wird bunt

 

Warum ist das Buch nicht nur etwas für Szene-Menschen, sondern auch für Szene-Fremde?

Reisser: Unsere acht Autoren kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Sylvia Necker ist zum Beispiel Architektur-Historikerin. Das Buch ist also auch spannend für Leute, die sich für Architektur und Stadtgeschichte interessieren. Soziologe Carsten Heinze von der Uni Hamburg als Spezialist für Jugendkultur ist auch mit dabei. Der stellt sich Fragen wie: Was ist Jugendkultur und aus was für einer Szene kommen wir?

Das Buch zeigt die 80er und 90er – warum endet es ausgerechnet 1999?

Reisser: Wenn wir uns nur auf die 80er konzentriert hätten, hätten wir nur so gerade erzählt, wie diese Szene entstanden ist. Mit den 90ern zeigen wir dann auch noch, was die Folge-Generationen daraus gemacht haben und wie sich das Sprühen etabliert und perfektioniert hat. 1999 war auch ein Wendepunkt: Zum einen endet da die Analog-Zeit der Fotos – wir haben im Buch kein einziges Digitalfoto. Zum anderen fand in diesem Jahr auch das „Flash“-Festival in Hamburg statt – der Höhepunkt der ganzen Underground Hip-Hop-Entwicklung. Ab 2000 ist dann alles explodiert und Teil der Pop-Kultur geworden. Ab da begann dann eine ganz andere Zeit.

Das Buch (69,90 Euro, Double-H Publishing) gibt’s im Buchhandel, in ausgewählten Szeneläden und natürlich unter einestadtwirdbunt.de!

Jeden Tag ein Türchen!

Der MOPOP-Adventskalender mit musikalischen und popkulturellen Gewinnen startet wieder. Dafür einfach auf Insta­gram @mopophamburg folgen, täglich liken, kommentieren und vielleicht gewinnen! Zum Auftakt heute stecken natürlich zwei Exemplare von „Eine Stadt wird bunt“ hinterm Türchen. Viel Glück!

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