Aufregendere und vielseitigere Künstlerinnen als Alina-Bianca „Alli“ Neumann gibt es wenige in diesem Land. Sie spielt Fagott, hat eine markante Stimme, singt forsch-freche Lieder, landete Hits wie die Trettmann-Kollaboration „Zeit steht“ und hat im September ihr drittes Album „Roquestar“ rausgebracht. Auch als Schauspielerin, etwa in der Netflix-Serie „Kleo“, hat die 30-Jährige Erfolg. Die MOPO sprach mit Alli Neumann über Zweifel, Bowie und das Leben auf dem Friedhof.
MOPO: Es macht Spaß, Ihr Album zu hören – aber warum nennen Sie gleich das erste Stück „Ich kann gar nichts“?
Alli Neumann: Das Hochstaplersyndrom ist etwas, das mir stark zu schaffen macht. Ich bin glücklich und dankbar, dass ich mich in ganz vielen Bereichen ausprobieren darf, in denen ich überall keinen akademischen Ausbildungsgrad habe, und ich finde es toll, von so vielen spannenden Menschen zu lernen. Aber das Hauptgefühl, das mich bei all dem umgibt, ist der Zweifel
Ist Zweifel ein gutes Gefühl?
Für mich schon. Ich finde es überhaupt nicht schlimm, vieles nicht zu wissen und zu können. Denn zu viel Selbstvertrauen führt zu Selbstüberschätzung, und dann wird es gefährlich. Zweifel hingegen lässt Platz für Fragen entstehen und löst Neugierde aus. Du bleibst offen, wenn du zweifelst. In dem Moment, in dem du meinst, alles zu wissen, blockst du andere Informationen ab. Und das macht engstirnig und unsympathisch.
Sie haben schon im Vorprogramm von Coldplay gespielt. Was haben Sie von Chris Martin und Kollegen gelernt?
Das ganze Team, angeführt von der Band selbst, ist unfassbar akribisch. Die machen jeden Morgen ihren Sport und widmen sich Tag für Tag ihrem Soundcheck, auch wenn sie am Abend vorher im selben Stadion bereits gespielt haben. Wenn man sehr diszipliniert und strukturiert ist, dann läuft im Grunde das ganze Programm von alleine ab, und du hast auf der Bühne Zeit und Freiraum für Spaß und Spontaneität. Das fand ich sehr spannend zu erfahren.
Ihr eigener Stil ist nicht leicht einzuordnen: Ihre Popsongs können sehr melodisch sein wie „Vom anderen Stern“, hymnisch wie „Versailles“, verspielt wie „Seltsame Welt“, aber auch schroff wie „Schattenboxer“.
Ich schätze mich glücklich, mich in einer solch großen Bandbreite ausleben zu können. Speziell zu Anfang war ich eine ziemliche Zumutung für die Menschen und ihre Hörgewohnheiten. Und dann spiele ich auch noch Fagott. Gott sei Dank habe ich ein Publikum gefunden, das offen ist, mir vertraut und sich mit mir immer wieder auf Neues einlässt. So kommt es dann, dass ich auch mal ein jiddisches Lied singe oder was Dänisches oder plötzlich polnischen Kehlkopfgesang mache.
Warum heißt Ihr Album „Roquestar“?
Weil es ein schönes Wort ist. Und weil die Figur des Rockstars für mich ein Sinnbild für Ambivalenz darstellt. Rockstars wollen geliebt werden, haben aber auch Angst vor Vereinnahmung. Sie wollen ein selbstbestimmtes, freies, wildes Leben führen, doch merken sehr schnell, dass sie sich in minutiös getakteten Sieben-Tage-Wochen wiederfinden. Die Realität dieses Berufs hat mit der Wirklichkeit definitiv nicht viel zu tun. Und trotzdem liebe ich ihn. Immer noch mag ich den romantischen Gedanken, dass Rockstars – ich denke zum Beispiel an David Bowie und seine Figur Ziggy Stardust – wie Aliens sind, die auf die Erde fallen, um hier Anerkennung und Liebe zu finden.
Fühlen Sie sich selbst wie eine Außerirdische in unserer Gesellschaft?
Als Kind war das extrem der Fall. Ich habe die ersten sechs Jahre im ländlichen Polen gelebt, nicht weit von der Grenze zur Ukraine. Dann bin ich mit meinen Eltern in den Norden Schleswig-Holsteins gezogen. Mein Vater ist 30 Jahre älter als meine Mutter, ein Künstler. Unser Haus lag auf einem alten Friedhofsgelände, Deutsch konnte ich anfangs auch kaum – also da habe ich mich schon sehr als Alien gefühlt.
Wie lebt es sich auf dem Friedhof?
Einsam, aber charakterstärkend. (lacht) Die anderen Kinder wollten nicht zu mir nach Hause kommen, weil sie das gruselig fanden und meinen Vater für einen Verrückten hielten. Nur zu Halloween, da gab es die besten Partys bei uns. Auch meine polnische Identität war ein großes Schamthema. Ich habe das in der Schule verheimlicht, bis ich 18 war. Heute spreche ich sehr gern über meine Herkunft. Was ich lange als Schwäche wahrgenommen habe, ist nun etwas, für das ich gemocht und gesehen werde. Kürzlich habe ich zum ersten Mal ein Konzert auf Polnisch gespielt, im Publikum waren größtenteils deutsch-polnische Frauen. Ich fragte, wer als Reinigung- oder als Pflegekraft arbeitet, und fast alle Arme gingen nach oben. Dann wollte ich wissen, wer vorher schon einmal in einem Theater war, und fast niemand meldete sich. Alle gemeinsam hatten wir an diesem Abend das Gefühl, in der deutschen Gesellschaft angekommen zu sein.
Gab es einen Grund, warum Ihre Eltern auf dem Friedhof wohnten?
Mein Vater ist immer ein Mensch gewesen, der Kuriositäten liebt. Er ist ein Architekt, ein Künstler, ein Freigeist. Ich wollte als Kind Markenschuhe haben und im Reihenhaus leben. Stattdessen spielte ich Fagott, ein völlig uncooles Instrument, habe es geliebt und liebe es bis heute.
Hat der Traum von Reihenhaus geklappt?
Er könnte kaum weiter weg sein. Ich lebe wieder auf dem Friedhof bei meinen Eltern. Und wenn ich in Berlin bin, wohne ich in einer Hütte im Schrebergarten. Das ist jetzt nicht unbedingt eine Situation mit klassischem Warmwasseranschluss, aber im Moment passt alles ganz gut, und ich störe auch niemanden in der Nachbarschaft, wenn ich Fagott übe.
Foto: Sasha Ostrow/NetflixSie sind 2018 fast gleichzeitig als Musikerin und als Schauspielerin bekannt geworden. Hat beides für Sie in etwa dasselbe Gewicht?
Ich sehe mich in erster Linie als Geschichtenerzählerin. In der Musik habe ich mehr eigene Werkzeuge, mit deren Hilfe ich mich ausleben und selbstbestimmt arbeiten kann. Im Film- und Serienbereich bin ich stärker auf die Stoffe und Projekte von anderen angewiesen.
Haben Sie sonst noch was gelernt?
Ich bin eine sehr erfolgreiche Studienabbrecherin. Von Politikwissenschaften über Kunstgeschichte bis zu Slawistik war ich irgendwann mal eingeschrieben, und alles habe ich schnell wieder beendet. Lange am Schreibtisch zu sitzen, ist eine sehr große Anstrengung für mich. Ich mag mehr die praktischen Berufe. Ich habe im Krankenhaus zum Beispiel OP-Räume gereinigt. Und ich habe einige Jahre lang in Hamburg auf dem Kiez gearbeitet, in der SM-Bar „Crazy Horst“. Außerdem habe ich in einem Trachtenladen gearbeitet, das war sehr schön, denn ich liebe traditionelle Trachten und habe selbst viele zu Hause, von meinen polnischen Großeltern.
Wie war es für Ihre Familie, dass Sie in einer SM-Bar arbeiten?
Ach, die sind da total offen. Mein Onkel, der leider an HIV verstorben ist, war schwul und hat einen sehr glamourösen und exaltierten Lebensstil gepflegt. Auch mein Vater hat immer ein sehr wildes Leben geführt. Ich bin eigentlich die Bravste von uns. Für meine Familie bin ich fast schon spießig. (lacht)
Konzert: 5.12., 20 Uhr, Große Freiheit 36, Karten 45,65 Euro
Album: „Roquestar“ ist bereits erschienen (JAGA Recordings/Warner)
































