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„Müssen wir Elend und Dreck zeigen?“: Annette Hess über ihre Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“


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Christiane F. (Jana McKinnon, 3. v. l.) ist wieder da – ab Freitag als Serie auf Amazon Prime. Fotos: Constantin Film/Amazon Studios/Soap Images

Christiane F. ist zurück! Gut vier Dekaden nach Veröffentlichung des biografischen Bestsellers „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und der Kinoverfilmung gibt es ab 19. Februar auf „Amazon Prime“ eine Neuauflage des Stoffes als achtteilige Serie. Idee und Drehbücher stammen von Grimme-Preisträgerin Annette Hess („Weissensee“, „Ku’damm 56“). Im MOPOP-Interview erzählt sie, warum das Drogen-Thema aktueller denn je ist, die Serie anders ist als der Film und warum David Bowie auch diesmal nicht fehlen durfte.

MOPOP: Frau Hess, wann sind Sie das erste Mal mit dem Stoff von Christiane F. in Berührung gekommen?

Annette Hess: Mit 13 habe ich das Buch gelesen. Das war wie ein Bombeneinschlag! Nicht nur bei mir, sondern auch in meinem Umfeld. Ich komme aus einem niedersächsischen Dorf, da wurden Drogen Anfang der 80er ein Thema, auch harte Drogen. Es gab eine Dorfdisco, die Drogenumschlagplatz war. Mein damaliger Freund ist vor drei Jahren an den Spätfolgen von Heroin gestorben. Ich habe also einen persönlichen Bezug zum Thema.

Ich habe das Buch mit 13 Jahren gelesen. Das war wie ein Bombeneinschlag!

Annette Hess

Wie hat Ihnen der Film von Uli Edel aus dem Jahr 1981 gefallen?

Damals war ich entsetzt, weil er nicht die ganze Geschichte erzählt. Ich wusste noch nichts über Adaption und Dramaturgie und dass das gar nicht anders geht, wenn man aus 350 Seiten einen zweistündigen Film extrahiert. Inzwischen schätze ich den Film sehr, weil er auch ein Zeitdokument ist – er wurde ja nur zwei Jahre nach Christiane F.s Zeit am Bahnhof Zoo gedreht. Im Zuge des Serien-Booms fand ich den Zeitpunkt jetzt passend, das Buch adäquat – nämlich in seiner Vollständigkeit – zu adaptieren.

Ist der Respekt groß, wenn man weiß, dass bereits ein Film-Klassiker zum Buch existiert?

Ich habe das Drehbuch mit einem Writers’ Room geschrieben. Wir hatten vor allem Respekt vor den Menschen, die es wirklich gegeben hat, die an ihrer Sucht gestorben sind, und vor ihren Schicksalen. An den Film haben wir gar nicht gedacht, wir haben nur versucht zu vermeiden, dass sich Szenen ähneln. Wenn man beispielsweise einen Entzug schildert, hat der bestimmte Symptome. Dann ist die Gefahr groß, dass sich Bilder gleichen.

Was kann man in einer Serie besser rüberbringen?

Uns war wichtig, dass wir verschiedene Schicksale und Perspektiven erzählen. Denn jeder aus der Clique hat seine eigene, komplexe Geschichte – es geht nicht nur um Christiane F. Da gibt es die recht gegenpolige, vermögende Familie von Babsi, für die die Abwesenheit der Mutter ein Problem ist. Stella kommt aus dem Kneipenmilieu – ihre Mutter ist Alkoholikerin. Wir wollten von möglichen Ursachen erzählen, warum man in eine Drogensucht rutscht. Dass man bei einer Serie länger in die Charaktere und die Welt eintauchen kann, ist dafür hilfreich. Man schaut nicht mehr von außen auf diese verlorenen Gestalten, sondern geht empathisch mit. Man beurteilt nicht mehr so pauschal, sondern lässt Widersprüche und fragwürdiges Verhalten zu, findet sich selbst wieder.

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Der Film ist schmutziger, dunkler und düsterer als die Serie und wirkt dadurch realer.

Wir wollten weder ein auf sieben Stunden gestrecktes Remake des Films produzieren, noch eine Dokumentation über die End-70er-Drogenszene Berlins drehen. Denn unsere Perspektive ist heutig und wir haben nach dem Zeitlosen in der Geschichte gesucht. Welche Frage bei uns aber sofort aufkam: Müssen wir ungeschönt Elend und Dreck zeigen, damit wir Drogen nicht verharmlosen? In welchem Grad von Versifftheit gestaltet man beispielsweise ein Bahnhofsklo? Da ist ja alles denkbar. Aber wir kamen zu dem Schluss, das Drama und den Schrecken über das Schicksal der Charaktere und nicht über ein möglichst schmutziges Set zu zeigen. Von innen und nicht von außen. Und zwei Drittel unserer Clique bleiben ja auf der Strecke.

Inwiefern ist die Serie zeitlos?

Es ist eine universelle Geschichte über junge Menschen, die sich unsterblich fühlen, die Sehnsüchte haben, aber auch Traumata, aus dysfunktionalen Familien kommen, ihre seelischen Schmerzen betäuben müssen, ihre innere Leere betäuben müssen, was absolut zeitlos ist. Diese Orientierungslosigkeit – „No Future“ hat man damals ja auch gesagt –, gilt heute mehr denn je, auch für 30-Jährige. Denn dieses Klassische „Lehre – Ausbildung – Job – Rente“ gibt es nicht mehr. Heute studiert jeder – mit offenem Ergebnis. Erfolg und Identität werden aus der virtuellen Welt generiert. Das erzeugt Druck und Leere gleichzeitig. Optimierung und Betäubung sind gefragt wie nie. Die Namen der Drogen ändern sich, die Wirkungen ändern sich, aber dass konsumiert wird, ändert sich nicht – im Gegenteil.

Die Namen der Drogen ändern sich, aber dass konsumiert wird, ändert sich nicht – im Gegenteil.

Annette Hess

1978 registrierten die westdeutschen Behörden noch 430 Drogentote, 2019 waren es für ganz Deutschland 1398. Trotz des Anstiegs ist das Thema weitgehend von der Bildfläche verschwunden.

Es wäre tatsächlich ein schöner Effekt der Serie, wenn Medien darüber berichten würden, wie es eigentlich heutzutage ist. Ich sehe nur manchmal eher humorige Artikel darüber, dass das Abwasser in bestimmten europäischen Metropolen voller Kokain ist.

Christiane und Benno (Michelangelo Fortuzzi) wollen den nächsten Schuss.

 

Wie schwer war es, die neue Christiane zu finden?

Es war von vornerein klar, dass es ein Ensemblefilm wird, wir also sechs Hauptfiguren haben. Die anderen Fünf waren schon gefunden, aber uns fehlte noch die Christiane. Als Jana McKinnon in unserer WhatsApp-Gruppe für die Rolle vorgeschlagen wurde, kam sofort von allen Seiten: „Ja, die isses!“

Hat es Gespräche mit der echten Christiane F. gegeben?

Sie weiß natürlich von der Serie. Es gab auch immer mal wieder Ideen für ein Treffen. Aber sie lebt inzwischen sehr zurückgezogen.

David Bowie kommt auch in der Serie vor – wie genau, wird noch nicht verraten!

Wie lange haben Sie darüber nachgedacht, ob Sie David Bowie in der Serie auftreten lassen?

Gar nicht. Als ich dem Produzenten Oliver Berben vor vier Jahren sagte, dass ich diese Serie machen will, war eine meiner starken Motivationen, dass ich eventuell David Bowie kennenlernen kann – damals hat er noch gelebt. „Das wär’s doch“, dachte ich. Wir hätten ihn eh kontaktieren müssen wegen der Songrechte. Aber er ist leider gestorben, bevor alles so richtig in Gang kam. Für mich ist David Bowie unglaublich verbunden mit der Geschichte von Christiane. Heroin nahm sie das erste Mal nach dem Bowie-Konzert 1976. Das ist also autobiografisch. Wir haben ein Jahr überlegt, wie wir ihn darstellen: Vom technisch gemorphten Gesicht bis hin zu dem Vorschlag, ihn nur von hinten zu zeigen, gingen wir einige Ideen durch. Aber nun haben wir eine andere Lösung gefunden. Bowie ist immer noch mein größter Held.

Auf die berühmte „Helden“-Szene im Einkaufszentrum haben Sie jedoch verzichtet.

Es gibt eine Karussell-Szene, die eine starke Gemeinschaftsszene ist – das war unser „Heroes“-Moment. Es wäre allerdings etwas billig gewesen, als musikalische Untermalung den Titel „Heroes“ zu nehmen.

Es gibt natürlich etliche Szenen am Bahnhof Zoo. Musste viel geändert und nachbearbeitet werden, um das Drehset den 70ern nachzuempfinden?

Der Bahnhof Zoo wurde im zweiten Stock eines leerstehenden Fabrikgebäudes in Prag komplett nachgebaut. Meine Co-AutorInnen und ich haben das Set besucht, es war wirklich verrückt, plötzlich standen wir in der Ankunftshalle – mit Reisenden, mit einem Blumenladen, der geöffnet hatte usw. Es war ein bisschen unheimlich. Viele Außenaufnahmen sind in Berlin entstanden, unter anderem auch in Gropiusstadt, wo Christiane aufgewachsen ist. Dort mussten wir teilweise die Bäume wegretuschieren, denn die gab es dort vor 40 Jahren noch nicht. Die Diskothek „Sound“ sieht bei uns vollkommen anders aus. Wir wollten damit auch zeigen, dass wir nicht historisch akkurat erzählen, dass es vielleicht nicht jedes Auto im Hintergrund schon 1978 gab. Auch die Musik bedient sich ja in mehreren Jahrzehnten.

Was würden Sie sich wünschen, was von der Serie bleibt?

Oh, da fange ich selbst gleich an zu heulen! Ich würde mir wünschen, dass man um die weint, die gestorben sind. Denn für mich sind gelungene Serien immer auch Empathie-Training. Insofern wäre es wundervoll, wenn man auf heutige Süchtige, auf Menschen, die mit ihrem Leben nicht klarkommen, nicht abwertend blickt, sondern Verständnis entwickelt oder auch hilft.

Die Serienadaption „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ startet am 19. Februar exklusiv bei „Amazon Prime“ in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ab 18. Februar ist eine Audio-Dokumentation mit bislang unveröffentlichten Original-Aufnahmen aus Interviews mit Christiane F. über „Audible“ verfügbar.

Wie gut ist die Serie?

Wem der Film von 1981 noch präsent im Kopf ist, dem wird es sofort auffallen: In der achtteiligen Serien-Adaption wirkt alles polierter und glamouröser, auch Christiane F. selbst, die besonders am Anfang lieb, naiv, etwas unsicher, aber immer in den coolsten Klamotten auf dem Schulhof steht.

Aus Detlef ist in der Serie Benno geworden. Neben den Themen Drogen und Prostitution werden auch häusliche Gewalt und Missbrauch thematisiert.

Der Soundtrack, der auch Coverversionen von u.a. Lady Gaga beinhaltet, trägt zu dem frischen, modernen Anstrich der Serie bei.

Poetisch ist indes die filmische Umsetzung: Wenn auf dem Dancefloor plötzlich alle zu schweben anfangen, gibt das dem Highsein eine bildliche Dimension. Statt der „Helden“-Szene sorgt eine Karussellfahrt für Gemeinschaftsgefühl. David Bowie ist trotzdem allgegenwärtig und seine optische Darstellung mutig.

Die sechs Hauptfiguren der Clique sind so toll und individuell besetzt, dass man an ihnen klebt, selbst wenn sich Längen auftun, was in Folge 5 in lächerlichen Eifersuchtsszenen gipfelt. Dafür haben die Figuren und ihre Umfelder aber auch Raum, sich zu entwickeln. Wie sehr sie einem ans Herz gewachsen sind, merkt man in Folge 6. Da bleibt keine Auge trocken! Die Serie ist viel emotionaler als der Film.

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