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„Das Reeperbahn-Festival ist ein ökonomisches Kunstprodukt“ – Chef Alexander Schulz im Interview

"Pandemie-Edition": Reeperbahn-Festival-Chef Alexander Schulz (53). Foto: Marius Röer
"Pandemie-Edition": Reeperbahn-Festival-Chef Alexander Schulz (53). Foto: Marius Röer
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Sonst liegt beim Reeperbahn-Festival der Fokus darauf, sich treiben zu lassen, neue musikalische Entdeckungen zu machen und sich innerhalb der Branche auszutauschen. Diesmal ist alles reduzierter, gestreamter und minutiöser geplant. MOPOP sprach mit Festival-Chef Alexander Schulz (53) über die „Pandemie-Edition“ seiner Veranstaltung, die vom 16. bis 19. September stattfindet.

Nichts ist gerade so wie es mal war in der Konzert- und Veranstaltungsbranche. Wie geht es Ihnen damit, dass Ihr Reeperbahn-Festival in diesem Jahr auf so spezielle Weise – Pandemie-gerecht – durchgeführt werden muss?

Alexander Schulz: Manchmal ist es immer noch so, dass ich hoffe, man könne sich kneifen und es ist alles vorbei. Aber das ist die Realität. Mittlerweile hat das ganze Team einen Umgang mit der sehr besonderen Situation gefunden. Wir haben Erkenntnisse gewonnen, die wir ohne die Pandemie niemals gemacht hätten. Daraus ist ein ganz neuer Team-Spirit entstanden. Wir mussten die Veranstaltung ja mehrfach umdenken. Erst waren wir unsicher, ob sie überhaupt stattfinden kann. Aber jetzt gibt’s ein ausgeklügeltes Hygiene-Konzept, die Teilnehmerzahl wurde von sonst 50.000 auf 8.000 stark reduziert. Weil die Live-Erlebnisse reduziert sein werden, gibt es ein irres mediales Angebot: Da ist ein richtiges Mehr-Kanal-Programm mit Haupt- und interaktivem Nebenprogramm entstanden. Einige Sachen zeigen wir live und andere on Demand.

Teilnehmerzahl von 50.000 auf 8.000 reduziert

Haben Sie Angst, dass kurzfristig doch noch alles abgesagt werden muss – etwa, falls es einen weiteren Lockdown gibt?

Nein. Wir haben ungefähr 150 Programmpunkte für die Öffentlichkeit und 150 für Fachbesucher. Davon werden mindestens 200 medial begleitet. Wenn es also sein müsste, könnten wir komplett auf Nicht-Präsenz und Streaming umsteigen. Dabei muss man natürlich immer davon ausgehen, dass es kein Berufsverbot geben würde und Künstler und Speaker weiterhin auftreten dürften.

Was werden Sie und wir in diesem Jahr vermissen?

Das klingt merkwürdig, aber ich werde das Unberechenbare am Reeperbahn-Festival vermissen. Klar, Corona ist auch unberechenbar, aber das meine ich nicht. Unter normalen Bedingungen tritt ja immer dieser besondere Effekt ein: Du machst dir vorher einen Plan, aber häufig passieren dir die geilen, unerwarteten Sachen, wenn du deinen Plan nicht einhältst. Wenn du im Club zufällig was aufschnappst oder als Fachbesucher eine unerwartete Begegnung machst. In diesem Jahr wird man höchstens vier Veranstaltungen pro Abend erleben können. Alles wird berechenbar sein. Ob das positiv oder negativ ist, müssen wir alle gemeinsam herausfinden.

„Ich werde das Unberechenbare am Reeperbahn-Festival vermissen.“

Chef Alexander Schulz (53)

In dieser reduzierten Form kann das Festival nur stattfinden, weil es subventioniert wird. Können Sie das mal für uns aufschlüsseln?

In einem normalen Jahr bekommen wir 600.000 Euro Unterstützung von Land und Bund. In diesem Jahr kriegen wir zusätzliche 1,3 Millionen Euro. Mit den reduzierten Ticketverkäufen und Partner-Einnahmen haben wir somit einen ungefähren Gesamt-Etat von 2,5 Millionen Euro. Das ist die wichtige Erkenntnis: 70 bis 80 Prozent sind Subventionen in diesem Jahr. Ökonomisch ist das Reeperbahn-Festival ein Kunstprodukt. Keiner muss jetzt denken: ‚Oh, die machen das ja! Warum können die Clubs das nicht auch?‘ Die können das nicht. Kleine und mittlere Spielorte haben ihren Break-Even meistens erst bei 80 bis 90 Prozent Publikums-Auslastung. Gerade kann man wegen der Abstandsregeln aber nur 20 Prozent Auslastung umsetzen – und dann kommen noch die besonderen Pandemie-Kosten obendrauf.

1,9 Millionen Euro Subvention von Land und Bund

Es gibt ja auch Kritik, dass das Festival überhaupt durchgeführt wird.

Das kann ich nachvollziehen. Wir erwarten auch gar nicht, dass Menschen uns besuchen, wenn sie sich unwohl oder gefährdet fühlen. Aber wir müssen uns da ja irgendwie rantasten. Die Lösung kann ja nicht sein: Alle bleiben zu Hause und wir machen gar nichts. Auf der einen Seite stehen das Hygiene-Konzept, das allen Vorschriften entspricht, sowie die Möglichkeit der genauen Nachverfolgung des Infektionsgeschehens – solange es noch keine Impfung gibt. Auf der anderen Seite steht das Bedürfnis nach Normalität und kulturellem und gesamtgesellschaftlichem Futter. Wir müssen da einen Mittelweg finden.

„Die Lösung kann nicht sein: Alle bleiben zu Hause und wir machen gar nichts.“

Festival-Chef Alexander Schulz

Sind Sie nervös?

Nervös bin ich nicht, nur besonders gespannt. Ich habe wieder so ein ähnliches Gefühl wie beim allerersten Festival 2006. Da war die Grundsatzfrage: Verstehen die Leute überhaupt, was wir da machen mit all den unbekannten Künstlern? Jetzt stelle ich mir ähnliche merkwürdige Fragen. Weil so viele Abläufe nicht geübt sind und wir so vieles nicht wissen. Was wird das für eine Atmosphäre? Das wissen ja noch nicht mal die Künstler. Die meisten haben ja auch ewig nicht gespielt. Ich freue mich tierisch auf die ersten Töne auf der Bühne. Keine Ahnung, einfach mal wieder eine laute Snare hören! Aber bestimmt werde ich es total befremdlich finden, wenn da Stühle stehen, die keinen anderen Job haben, als nicht besetzt zu werden.

Und die ganze Welt guckt aufs Reeperbahn-Festival!

Natürlich hoffe ich, dass in einem normalen Jahr auch die ganze Welt auf das Festival guckt. Also, zumindest die Musikwelt (lacht). In diesem Jahr investieren Bund und Land sehr viel in unser Festival, deswegen finde ich es durchaus angemessen, wenn besonders viele Leute zuschauen. Das setzt uns nicht zusätzlich unter Druck. Wenn wir den Präsenzteil der Veranstaltung und auch die neuen Formen der Medienproduktion ordentlich machen für alle, die da sind, dann wird das für den Rest der Welt auch okay sein.  

Was ist Ihre größte Angst?

Meine Horrorszenarien sind Terrorwarnungen oder richtiger Terror. Diese Angst ist noch viel krasser als davor, was die Pandemie anrichten könnte.

Wenn das Festival am 20. September vorbei ist: Mit welchem Gefühl wollen Sie an dem Morgen aufwachen?

Dass wir das ordentlich gemacht haben. Dass unsere Umsetzung mit bestuhlten Clubs und Open-Air-Flächen für Publikum, Künstler und Wirtschaftsvertreter funktioniert hat – besser als im Autokino oder direkt auf dem Sofa. Wenn dadurch klar wird, dass man sich mit dieser Lösung für ein halbes Jahr oder Jahr anfreunden kann – je nachdem, wie lange es noch dauert. Dass dadurch noch mehr Kultur als unterstützenswert erachtet wird, damit die Wirtschaft dahinter den Betrieb wieder aufnehmen kann! Und dass auch die 85 Prozent Solo-Selbständigen und Kleinstunternehmer, die in diesem ganzen Apparat drinhängen, mehr gesehen werden. Aber es kann natürlich auch sein, dass das alles irgendwie nicht funktioniert hat. Dann wäre die Erkenntnis wohl, dass wir die Füße noch solange stillhalten müssen, bis Corona überwunden ist.

Das Reeperbahn-Festival findet vom 16. bis 19.9. an unterschiedlichen Spielorten auf dem Kiez statt: Tickets gibt’s ab 45 Euro, weitere Infos unter reeperbahnfestival.com.

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