Reeperbahn-Festival, Tag 2. Inzwischen entkommt niemand mehr dem Wahnsinn zwischen „Hast du gesehen?“, „Musst du sehen!“ und „Ey, hast du gehört, dass Band XYZ ’nen Überraschungs-Gig spielt?!“. 2024 macht keine Ausnahme im Mehr-mehr-mehr. Blumengarten plötzlich auf dem Lattenplatz vorm Knust? Klar! Große K.I.Z-Surprise-Aktion am Millerntorstadion? Aber sicher! Mit Ski Aggu wurde einer der „Secret Acts“ immerhin schon am Montag verraten. Konnte man sich drauf vorbereiten. Donnerstagnacht hatte er schließlich seinen großen Auftritt im Docks. Und weil eine Überraschung nicht reicht, hatte er gleich zwei parat. Aber der Reihe nach. Denn eigentlich dreht sich beim Reeperbahn-Festival ja alles um eher unbekannte Acts. Und da gab es eine Menge zu entdecken.
Bibi Club: Ein Bad in der Menge
Kanadischer Abend im Uwe, ein Sträußchen Ahornblattflaggen auf der Theke weist auf das Motto hin. Am frühen Donnerstagabend spielen Bibi Club aus Montreal: Das Duo ließ bereits nachmittags am MOPO(P)-Mobil seinen Charme spielen, das wollen sich jetzt viele noch mal in lauter anhören. Adèle Trottier-Rivard und Nicolas Basque mögen in Minimalbesetzung auftreten, der Sound lässt keine Leerstellen: Begleitet vom Drumcomputer spielen die beiden mal dichten, mal schwebenden Indiepop, gesungen auf Französisch und Englisch. Ein bisschen Stereolab, ein bisschen New Order, viel Bühnenpräsenz. Und ein bisschen Vor-der-Bühne-Präsenz: Fürs Gitarrensolo hüpft Basque mal eben von der niedrigen Bühne und nimmt ein Bad in der Menge. Schön, diese deutsch-kanadische Begegnung.
You Doo Right: Punkrock in Zeitlupe
Danach spielen You Doo Right, ebenfalls aus Montreal. Das Trio hat sich nach einem Song der Krautrockband Can benannt – was nun leider in wirklich jedem Text über sie steht, denn so selbsterklärend sind Bandnamen ja selten. Die Vorbilder sind also schnell geklärt, aber so gut muss man ihnen auch erst einmal nacheifern. Wenn nicht Krautrock die Blaupause ist, hört man Shoegaze und den hakeligen Rock von Television, insbesondere wenn Gitarrist Justin Cober dazu singt. Laut, repetitiv und hypnotisch – der Zeitlupen-Punkrock ist vielleicht nicht originell, aber trifft ins Mark.
Gwenifer Raymond: Sagenhaft intensiv
Die Gitarristin hat ein Mikro, aber weiß nicht so recht: Ist es an? Braucht sie es? „Je weniger ich rede, umso mehr kann ich Gitarre spielen”, sagt sie schließlich. Gwenifer Raymond spielt Akustikgitarre, aber von Lagerfeuerromantik hat das Ganze gar nichts (auch wenn sich ein paar Zuschauende im Schneidersitz vor die Bühne in der Nochtwache setzen). Raymond attackiert ihr Instrument mit Daumenpick und Flitzefingern, laut und virtuos. Manchmal wird der Stil in Ermangelung eines besseren Begriffs „American Primitive“ genannt, geprägt durch Fingerpicking und alternative Gitarren-Tunings, beeinflusst von alten amerikanischen Blues- und Folksongs. Sagenhaft intensiv, ein Highlight des zweiten Tages.
Zahn: Der Bass hängt bis zu den Knien
Während andere mit fortschreitendem Alter eher mellow werden, geht Felix Gebhard den umgekehrten Weg: Seine Band Home Of The Lame war freundlicher Indie, doch die ist begraben. Jetzt spielt er Keyboard bei den Einstürzenden Neubauten und hat eine Noiserock-Instrumentalband. Zahn nehmen, was laut ist, und packen es in ihr Bandkonzept: Post-, Wüsten-, Kraut-: Hauptsache Rock dahinter, gerne auch in Großbuchstaben, den Bass bis zu den Knien hängend. Hat gar nicht gebohrt? Von wegen.
Geordie Greep: Es ist kompliziert
Die Band Black MIDI gibt’s nicht mehr, dafür ist Sänger Geordie Greep jetzt alleine unterwegs. Die Neugier hat einige am späten Abend ins Knust getrieben, viel zu hören gab es vom Soloprojekt bislang nicht. Dass es kompliziert würde, war aber vielleicht abzusehen. Das im Oktober erscheinende Album „The New Sound“ klingt live nach Artpop mit wohldosierten Wutausbrüchen, ein bisschen wie Steely Dan gekreuzt mit Dredg, mit einer etwas heitereren Grundstimmung als bei der Ex-Band. Wer das ansprechend findet, hat einen guten Abend.
Zartmann: „Die offiziell geilste Crowd“
Rappelvoll ist es im Uebel & Gefährlich, als das Konzert von Zartmann ansteht. Der Indie-Pop-Sänger zählt wohl zu den angesagten Newcomern des Festivals, fast schon seine Nummer zu groß für diesen Begriff: Das Mojo-Konzert des Berliners im November war ratzfatz ausverkauft, zwei weitere im Frühjahr kommenden Jahres im Docks ebenso fix. Als das Licht im Uebel ausgeht, gibt es „Zarti“-Rufe, kurz drauf hopst der Berliner wie ein Flummi über die Bühne. Pop, HipHop, Party – das musikalische Eskalationskonzept von Zartmann funktioniert auch im Uebel, der Laden kocht. Besonders stark: „eehhhyyy“ – die eingängige Nummer ist auch live absolut feierbar.
Beim gemeinsamen Song „Wie du manchmal fehlst“ steht plötzlich Ski Aggu – DER Deutsch-Rap-Erfolgshit und „Secret Headliner“ beim Reeperbahn-Festival – mit auf der Bühne. Die Menge tobt, „das ist offiziell die geilste Crowd bislang auf dem Festival“, lobt Aggu.
Ski Aggu: Der Secret Headliner hat’s nicht leicht
Bei Aggus eigener Headliner-Show kurz nach Mitternacht im Docks ist es zwar ebenso proppevoll. Aber irgendwie mag hier der Funke nicht vollends überspringen: Es mangelt an Präsenz, allein auf der leeren Bühne wirkt der Rapper mit der Ski-Brille etwas verloren. Vorne wird zwar im Moshpit getanzt, aber sonst wirkt die Crowd doch ein bisschen müde. (Erwartbarer) Überraschungsgast: Otto Waalkes. Das gemeinsame Remake von Ottos „Friesenjung“ landete auf Platz eins der Charts – funktioniert dann dementsprechend auch wieder im Docks. Und dann steht auch hier wieder Zartmann mit auf der Bühne, die gemeinsame Nummer wird hier ebenso gefeiert. „Supportet diesen Newcomen bitte, gebt ihm ein paar Streams“, ruft Zartmann ins Ski-Aggu-Publikum. Wer supportet hier eigentlich wen? (DUE/MW/NR)
































