Tag eins des Reeperbahn-Festivals? Da gab’s eine glühende Rede bei der Eröffnungs-Gala, großartige Momente auf den kleinen Bühnen – und natürlich Nina Chuba, die mit ihrem Überraschungs-Auftritt die Massen zum Heiligengeistfeld lockte. Und ganz zum Schluss wurde das Publikum beschimpft. Wie erfrischend!
Silver Gore aus London spielen zum ersten Mal in Europa, sagen sie (das hätte man vor ein paar Jahren auch irgendwie anders ausgedrückt), und haben die Zeit vorm Gig gut genutzt: Sängerin Ava Gore hat sich zu ihrem Skelett-Shirt die passenden Totenkopf-Pulswärmer und eine Jolly-Roger-Kappe aus dem St.-Pauli-Fanshop besorgt. Live verstärkt durch eine Schlagzeugerin, bewegt sich das Duo zwischen dem Indierock von Metric mit Elektroelementen und dem Elektro von Purity Ring mit Indierockelementen. Ein bisschen morbide, ein bisschen theatralisch – und ganz schön großartig.
Ein beherztes „Schschsch“ aus den Reihen
Der Keller des Molotows, die noch relativ neue Top Ten Bar, ist eine gute Probebühne für Horse Vision aus Stockholm: Die Band spielt angedüsterten Alternativerock, dessen Vorbilder vermutlich älter sind als sie selbst. Die US-Band Been Stellar macht sowas Ähnliches derzeit mit mehr Erfolg, aber kein Grund, warum die Schweden da nicht aufschließen können – die Songs haben sie.
Ein beherztes „Schschsch“ aus der letzten Reihe, und dann ist es auch einigermaßen leise bei Flora Hibberd in Angie’s Nightclub. Die Londonerin lebt in Paris, das urbane Lebensmittelpunkthopping hört man der Musik aber nur bedingt an: Der verrätselte Indiefolk klingt eher nach nordenglischen Wäldern kurz vorm Regen. Das ist zart und sehr ernsthaft, mit manchmal beherzt reinbrezelnder E-Gitarre.
Florence Road: Olivia Rodrigo feiert die junge irische Band
Bei Florence Road hätte man das notwendige „Schschsch“ gerne einmal mit dem Megaphon ins Publikum gerufen. Ein etwas undankbares Setting für die junge Band aus Irland: zwar knallvolles Molotow, aber der hintere Teil ist firm im laberigen Branchentreff-Mindset. Nicht dass man es Florence Road anmerkt: Tolle Gitarrenindie-Songs wie „Heavy“ geben der Band, die sich seit der Schulzeit kennt, genug Selbstbewusstsein – und von Olivia Rodrigo gefeiert zu werden, macht den Rücken auch gerade. Scheiß auf unaufmerksame Business-Lappen.
Rücken gerade natürlich auch bei Die P. Die Rapperin haut ein fröhliches „Hab‘ studiert und absolviert und das alles auch ohne Uni / Deutscher Rap hat sich verkauft und macht des gern auch ohne Gummi“ ins Mikro – das Schmidtchen-Publikum nickt und ist alert. DJ Eddy links auf der Bühne, Die P nimmt sich den Rest. „Habt ihr Bock auf HipHop?!“, fragt sie. Das lässige Kopfnicken aus den Reihen ist Antwort genug. „Immer schön Boom Bap, immer schön Boom Bap“, ruft sie – und zieht durch. Stark.
Foto: Sebastian MadejTTSSFU ist als Künstler:innenname auch nicht unbedingt leichter zu behalten als Tamsin Nicole Stephens, sie selbst ist allerdings ziemlich unvergesslich: Im Molotow-Keller tritt sie mit Band im Blondie-Cosplay auf (die Herren weiße Oberhemden mit Krawatte, sie im weißen Kleid mit blonder Perücke). Der laute und verhallte Indierock steht hinter der Selbstinszenierung etwas zurück, aber die Attitüde alleine macht schon eine Menge Spaß.
Das mit dem „Schschsch“ und den unaufmerksamen „Business-Lappen“ ist auch beim Getdown Services Thema. Kurz nach Mitternacht gehen die beiden Kumpels aus Bristol im Molotow auf die Bühne. Ihr hipper Dance-Punk hat die Leute in Massen angelockt – und die Tatsache, dass sich im Molotow seit jeher auch die Branche trifft, macht den Laden gleich nochmal voller. Sie seien keine Fans von Showcase-Festivals, merken Ben und Josh gleich an, denn da stünden immer auch Typen rum, die nur quatschen wollten. „Und wir haben hier auch schon welche entdeckt“, sagen sie. „Wir sehen euch da hinten mit den verschränkten Armen. Und wisst ihr was? Wir werden euch nerven, wir werden euch SO nerven.“ Machen sie dann auch. „Ey, ihr da hinten! Ihr klatscht ja nicht einmal.“ Und so weiter, und so fort. Man muss den Branchen-Menschen fast dankbar sein – so viel Spaß hat Publikumsbeschimpfung selten gemacht. (MW/NR)
































