Reeperbahn-Festival Tag zwei – und alle reden übers Wetter. Wasser in der Luft, Nieselregen, heftiges Geplädder, an diesem Donnerstag ist alles dabei. Macht die Klamotten nass, die Stimmung aber nicht schlechter. Dafür ist das Programm auch einfach zu gut. Und die beiden Geheimkonzerte locken wieder viele Fans aufs Heiligengeistfeld …
Big Special in der Großen Freiheit 36: Alles wegen der Kohle!
Bis auf Gesang (na: Sprechgesang) und Schlagzeug kommt bei Big Special alles vom Band. Immer noch mehr Live-Instrumente als Sleaford Mods, mit denen Joe Hicklin und Callum Moloney gerne mal verglichen werden. Big Special sind weniger giftig als die Kollegen, aber immer noch sauwütend. Weil das aber offenbar in Birmingham die Werkseinstellung ist, ist ihre Show wunderbar selbstironisch, ohne an Wucht zu verlieren. „Wir sind nur wegen der Kohle hier!“, ruft Moloney und niemand glaubt ihm. Auch mal schön.
Soft Loft im Mojo-Club: Anchor-Nominees ganz „Vintage“
Soft Loft um die Schweizer Songschreiberin Jorina Stamm tritt sehr geschmackssicher auf: schöne Vintage-Instrumente, und so nachlässig cool gekleidet, dass natürlich nix daran nachlässig wirkt. Und so professionell klingt dann auch die Musik: ein angenehm klassischer Poprocksound, dem ein offenes Autodach gut stünde – bevorzugt auf einem sonnigen Highway, keiner Winterthurer Ausfallstraße. An einem verregneten Donnerstagabend für viele genau das Richtige. Auch für die Anchor-Jury, die sich im Mojo die Nominees für den Nachwuchspreis anschaut? Verliehen werden die Awards am Freitagabend im St. Pauli-Theater. Bleibt spannend!
Léonie Pernet im Nochtspeicher
Die französische Künstlerin Léonie Pernet schmachtet im Nochtspeicher sehnsuchtsvollen Gesang über eine Klangwand aus Geige, Keyboards und Synthie-Beats. Das klingt mal sehr melancholisch, fast bluesig, und dann wieder mittanzbar, mit angezogenem Tempo. Äußerst packende Erfahrung!
No Frills im Schmidtchen: Wie „Grüne Eier mit Speck“
„Das ist wie ,Grüne Eier mit Speck’: Probiert es, vielleicht liebt ihr’s!“, sagt Daniel Busheikin, um Leute in die erste Reihe zu bugsieren, und stößt gleich mal auf einen kulturellen Unterschied –das Kinderbuch von Dr. Seuss ist in Deutschland eher unbekannt. Aber dafür sind die Länderschwerpunkte beim Reeperbahn-Festival ja auch da: zum Lernen. Im Schmidtchen am Donnerstagabend etwa über Kanada. Mitgeschrieben: Aus Toronto kommen sehr sympathische Bands wie No Frills, mit jangligen Indierock-Ohrwürmern wie „Shopping In The Toothpaste Aisle“. Probiert, verliebt.
Holy Void im Uwe: Intensiv und gut
Ein Stockwerk höher, im Uwe, geht es später mit den kanadischen Musikexporten weiter: Diesmal mit Holy Void aus Winnipeg, in relativ klassischer Bandbesetzung plus elektrischer Geige, die äußerst effektvoll eingesetzt wird. Ganz leicht festzulegen ist die Band nicht: Sie können doomigen Postrock à la Godspeed You! Black Emperor nachahmen, um im nächsten Song Beatles-Harmonien zu singen. Sie schließen mit „In The End I Am Nothing Anyways“, ein Shoegaze-Hit, wie ihn Ride leider nicht mehr schreiben. Intensiv und gut.
Foto: Amazon MusicZsá Zsá und Jolle im Festival-Village: Und dann fließen Tränen
Und kurz zum Thema Überraschungs-Auftritte: am Donnerstagabend gibt’s gleich zwei. Wieder im Festival-Village auf dem Heiligengeistfeld, wieder für lau und wieder kommen die Fans in Massen (wenn auch nicht ganz so wie bei Nina Chuba am Abend davor). Erst ist Zsá Zsá da, die ehemalige „Wilde Hühner“-Schauspielerin und „Bad Bunnies“-Rapperin (mit Hits wie „Rio (Freestyle)“ und „36°“). Danach gehört die Bühne Jolle.
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Und die kann das alles gar nicht fassen. „Leute, ich freu mich doch so“, ruft sie. Und: „Ich hatte natürlich wieder Schiss, dass niemand kommt!“ Aber alle sind sie da, feiern Songs wie „Parisienne“, „Große Freiheit“ und „50 Stufen Grau“, ihre neue Single. Toughe Rapperin, virale Hits – und live so sympathisch, dass man sich kurz die Augen reibt. „Ich muss mich bedanken“, sagt sie irgendwann, „ich bin jetzt schon das dritte Jahr in Folge hier, das ist keine Selbstverständlichkeit, das weiß ich.“ Im vergangenen Jahr hatte sie unter anderem am MOPO(P)-Mobil gespielt und den Platz zum Tanzen gebracht. Das schafft sie an diesem Abend auch, aber sie hat auch ein Anliegen: „Leute, kurz das hier: Jetzt kommt die dunkle Jahreszeit und ich weiß, mit ChatGPT kann man reden und so – aber Depressionen sind ’ne ernste Sache, also macht das nicht und geht zu ’nem Therapeuten. Wirklich, da kann man immer hin, auch wenn ihr denkt, dass eure Probleme vielleicht nicht groß genug sind. Macht das, lasst euch helfen.“ „Schwarzes Wasser“ heißt ihr Song zum Thema. Dann noch schnell „Petrichor“, ein aufrichtig erstauntes „Ich bin ganz beeindruckt, dass ihr so gut durchhaltet bei dem Schietwetter!“ und dann „der Song, der mein Leben verändert hat“ – „Alle Märchen sind gelogen“. Jolle kommen die Tränen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas erleben darf“, sagt sie, die Stimme bricht. Ein besonderer Moment – für die Fans, aber ganz bestimmt auch für Jolle selbst.
Foto: Sebastian MadejNell Mescal im Nochtspeicher (und Villanelle im 25 Club)
Im Nochtspeicher steht am späten Abend Nell Mescal (die kleine Schwester vom großen Paul!) auf der Bühne. Und selbst, wenn man mit tiefer Nepo-Baby-Kritiker-Stirnfalte gekommen ist, schmilzt diese nach spätestens zwei Sekunden dahin. Die irische Songwriterin hat nämlich nicht nur ein echtes Händchen für Gänsehaut-Melodien und berührende Texte, sondern auch eine wahnsinnig schöne Stimme. Und sie wirkt so nett! Nach dem Auftritt gibt’s für alle Fans, die wollen, noch Umarmungen und gemeinsame Selfies. Das zumindest hat die zeitgleich im rappelvollen (Einlass-Stopp!) 25 Club spielende „andere Nepo-Baby-Band“ Villanelle, in der Liam Gallaghers Sohn Gene singt, nicht gemacht.
Delivery im Molotow: Einfach mal den Kopf verlieren
Sechs Wochen seien sie jetzt unterwegs, sagen Delivery im Molotow. „Das ist hier ist Gig 29 von 30“, man solle bitte ein wenig nachsichtig sein, denn: „We are losing our minds.“ Völliger Quatsch. Was die Band aus Melbourne, Australien da liefert, ist begeisternde Musik. Die britische Nerd-Presse feiert sie seit ihrem Debüt 2022 für ihren extrem melodischen Garage-Punk. Sie selbst sagen (auf Deutsch): „Wir spielen jetzt ein paar Rocksongs.“ Haut hin. Und haut rein. Wo Platz ist, sich zu bewegen – nicht auf der Bühne, da ist’s mit Schlagzeug, Bass, drei Gitarren und irgendwo in der Ecke noch nem Keyboard relativ eng – wird sich bewegt und gehüpft, die Band ist tight, alle singen (auch auf der Bühne! Jede und jeder hat ein Mikrofon und nutzt es auch). Erfrischend. Kann man sich Freitagabend noch einmal ansehen – um 18 Uhr, wieder im Molotow. (MW/WT/NR)
































